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Baustelle Demokratie

Baustelle Demokratie

Titel: Baustelle Demokratie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Serge Embacher
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reicher, ohne dass die mittleren und unteren Schichten in der Wohlstandsentwicklung mithalten könnten. Die Klüfte – also die Abstände zwischen Ober-, Mittel- und Unterschicht – vergrößern sich. Das vielzitierte Wort von der sozialen Spaltung ist leider keine Übertreibung; sie hängt direkt mit den Verhältnissen in der Arbeitswelt zusammen. Zwar gibt es mit über 40 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern so viele wie noch nie in Deutschland. Doch findet gleichzeitig eine massive Ausweitung dessen statt, was in der Wissenschaft »Entstandardisierung der Beschäftigungsverhältnisse« (Geißler 2010, 18) genannt wird: Das Normalarbeitsverhältnis – Vollzeitbeschäftigung, sozialversichert, unbefristet, tariflich entlohnt – ist zugunsten von Teilzeitstellen und prekären, das heißt befristeten und niedrig entlohnten Arbeitsverhältnissen in die Defensive geraten (ebd.). Leiharbeit breitet sich kontinuierlich aus, wenngleich ihr Anteil an der gesamten Beschäftigung noch immer sehr gering ist. Von 2003 bis 2007 erhöhte sich die Zahl der Leiharbeitnehmerinnen und -arbeitnehmer von 400.000 auf 730.000 (vgl. ebd., 18) und bis Juni 2011 weiter auf 910.000 (vgl. Bundesagentur für Arbeit 2012).
    Die Behauptung, mit prekärer Beschäftigung, von der auch zunehmend gut Ausgebildete betroffen sind, ließen sich Wohlstand und sozialer Aufstieg sichern, konnte noch von niemandem schlüssig dargelegt werden. Damit ist das Hauptargument der »Workfare«-Strategen – »Hauptsache, erst mal irgendeine Arbeit, der Rest (Aufstieg, besseres Gehalt usw.) wird sich dann schon finden«! – definitiv falsch. Im Gegenteil: Der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor (hier: unter sieben Euro Stundenlohn) lag 2009 bei etwa 22 Prozent aller Erwerbstätigen, wie das Institut für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen ermittelt hat, und es ist angesichts des lang anhaltenden Trends zu mehr Niedriglohnarbeit nicht zu erwarten, dass die Zahl in nächster Zeit sinken wird (vgl. http://www.iaq.uni-due.de / archiv / presse / 2011 / 111115.php ). Dennoch wird das Argument immer wieder erfolgreich etwa für die Fortsetzung »Aktivierender Arbeitsmarktpolitik« und anderer Formen repressiver Sozialstaatlichkeit verwendet, worin sich aufs Neue die Stärke und Beharrungskraft ideologischer Dispositionen zeigt.
    Die Entwicklung der materiellen Besitzverhältnisse in Deutschland spiegelt sich in diesen Tendenzen wider: Sogar die Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung zeigen das deutlich, obschon sie voller politisch motivierter Beschönigungen stecken (vgl. zum Folgenden Bundesregierung 2008). Das sogenannte »Armutsrisiko« – ein zweifellos beschönigender Begriff, weil ja nicht wirklich ein Risiko, sondern reale Not beschrieben wird(!) – hat sich vom ersten bis zum aktuellen dritten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, also von 2001 bis 2008, von 12,1 Prozent auf 18 Prozent der Bevölkerung ausgedehnt. Als arm gilt in Deutschland, wer über weniger als zwei Drittel des Durchschnittseinkommens verfügt (aktuell ca. 780 Euro / Monat).
    Besonders von dieser Entwicklung betroffen sind Kinder (jedes sechste Kind in Deutschland lebt in Armut!), die ja nicht »nur« aktuell arm sind, sondern bedingt durch ihre Lebensverhältnisse auch weniger Aussicht auf erfolgreiche Bildungsabschlüsse und berufliche Entwicklung haben. Der plakative Spruch »Armut ist vererbbar« erweist sich leider als sehr zutreffend.
    Künftig werden es vor allem ältere Menschen sein, die zu einer weiteren Verbreitung von Armut beitragen. Denn wer heute im Niedriglohnsektor oder unter prekären Bedingungen arbeitet, wird nicht genug für seine Altersvorsorge tun können und später ein Leben weit unter dem allgemeinen Standard fristen müssen. Da zugleich auch das System der Rentenversicherung von der neoliberalen Maxime »Mehr Eigenverantwortung!« okkupiert und zuungunsten von Beziehern kleiner Einkommen umgebaut wurde (Stichwort: »Riester-Rente«), darf man unter den aktuellen politischen Bedingungen keine Besserung der Lage erwarten.
    Neben all diesen Entwicklungen muss ein weiterer »objektiver« Punkt, der einst die sozialpolitischen Debatten begleitete, erneut Beachtung finden: Die Steigerung der Produktivität in Arbeitsprozessen durch technische und organisatorische Rationalisierung sorgt für eine tendenzielle Abnahme des durch Menschen zu erbringenden Arbeitsvolumens.

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