Baustelle Demokratie
es sich hier um ein langfristig angelegtes politisches Manöver zur Schwächung von Arbeitnehmern und sozialer Sicherung zugunsten von Kapitalverwertungsinteressen. Diese Schwächung ist zwingende Voraussetzung dafür, dass der Reichtum für wenige so exorbitant wachsen konnte.
Von Anfang an gab es Kritiker, die die heutige Entwicklung klar vorhergesagt und die in allen Punkten recht behalten haben. Zu ihnen gehören etwa die Gewerkschaften, die viele Jahre lang als reformunfähige »Dinosaurier« gescholten wurden – und heute wieder Mitgliederzuwächse verzeichnen; aber auch Intellektuelle wie Jürgen Habermas, Axel Honneth, Günter Grass, Elmar Altvater, Hans-Magnus Enzensberger und viele andere, deren Stimme in Deutschland immer viel zu schwach war, um am Mainstream der wirtschaftlichen Liberalisierung etwas ändern zu können. Schlagzeilen machen immer die anderen, die Sloterdijks und Broders, die sich medienwirksam als Totengräber gesellschaftlicher Solidarität profilieren.
Nur weil man den Gleichschritt von wirtschaftlicher Entwicklung und sozialer Gerechtigkeit in eine Reihenfolge – erst die wirtschaftliche Entwicklung, dann das Soziale – umgewandelt hat, konnten die Phänomene, die sich mit dem Schlagwort »Prekarität« umreißen lassen, mental und real um sich greifen. Vor der neoliberalen Phase hat man die Schaffung von Arbeitsplätzen wie selbstverständlich – und unter dem Druck starker Gewerkschaften und einer selbstbewussten Sozialdemokratie – mit tariflicher Entlohnung und fairen Bedingungen zusammengedacht. Heute ist es zum common sense geworden, »erst einmal« dürftigen Lohn und schlechte Bedingungen zu akzeptieren, weil das für lohnabhängig Beschäftigte angeblich die Brücke in besser bezahlte Beschäftigung sein soll. Doch empirisch lässt sich dies nicht belegen: Der Wachmann, die Putzfrau, der Fassadenreiniger, die Friseurin, der Chauffeur, die Zeitungsbotin, der Möbelträger und das Zimmermädchen – sie alle dürfen nicht darauf hoffen, dass ihre miese Bezahlung und ihr prekärer Status einen Einstieg in bessere Arbeitsverhältnisse bedeutet. Im Gegenteil: Viele von ihnen landen trotz Vollzeitarbeit im »JobCenter«, um als sogenannte »Aufstocker« Leistungen nach SGB II (»Hartz IV«) zu beantragen, weil sie und ihre Familien von ihrer Arbeit nicht leben können. Rund 4,6 Millionen Menschen in Deutschland bezogen daher im Jahr 2011 »Hartz IV«; die Dunkelziffer der Anspruchsberechtigten wird noch viel höher eingeschätzt, weil viele ihre gesetzlichen Ansprüche aus Scham oder aus Furcht vor Bürokratismus und amtlicher Kontrolle nicht wahrnehmen.
Die Prekarität macht indes bei den niedrig qualifizierten Tätigkeiten nicht halt. Auch Grafikdesigner, Architekten, Computerfachleute, Autoren, Künstler, Kreative und viele andere kämpfen heute mit schlechter Bezahlung und schlechten Bedingungen für gute Arbeit. Das Dogma »Sozial ist, was Arbeit schafft« ist wirkmächtig und real, es ist täglich präsent und richtet enormen Schaden im gesellschaftlichen Gefüge an. Es zerstört täglich sozialen Zusammenhalt, weil es das Leben für sehr viele Menschen in einen nackten Überlebenskampf verwandelt.
Unter dem Einfluss dieses Dogmas haben sich die Bedingungen für lohnabhängig Beschäftigte und kleine Selbstständige kontinuierlich verschlechtert, während andernorts Profite extrem gestiegen sind und die Steuerbelastung für Gutverdiener und damit auch ihr Anteil an der Finanzierung des Gemeinwesens immer geringer geworden ist. Die Vermögensverteilung in Deutschland spiegelt das wider: 50 Prozent der Bevölkerung besitzen laut drittem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (vgl. Bundesregierung 2008) 2 Prozent des Gesamtvermögens, die reichsten 10 Prozent besitzen beinahe 60 Prozent. Im zweiten Armuts- und Reichtumsbericht waren es »nur« 46,5 Prozent (Bundesregierung 2005).
Merkwürdig mutet dabei an, dass nicht nur Kritiker, sondern auch die Befürworter einer angebotsorientierten Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik die Fakten gewissermaßen »kontrafaktisch« als Belege für die Richtigkeit ihrer politischen Strategie verwenden. Eigentlich müsste man endlich einräumen, dass alle Versuche, die soziale Lage durch kapitalfreundliche Maßnahmen zu verbessern, gescheitert sind. Die Fakten sprechen eine zu deutliche Sprache, um das ernsthaft leugnen zu können (zum Folgenden vgl. Geißler 2010). So werden Reiche in Deutschland stetig
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