Baustelle Demokratie
Staat und seine Akteure in produktiver Weise, sich an der Gesellschaft (und nicht an administrativer Eigenlogik) zu orientieren und wird damit zum Motor für weitergehende Demokratisierung. Für die »offizielle« Politik ist eine solche neue Kultur der Beteiligung zweifellos eine große Herausforderung. Sie muss Rahmenbedingungen und Beteiligungsmöglichkeiten der Bürgergesellschaft verbessern und darf dafür nicht Dank und Anerkennung verlangen, sondern wird sich im Gegenteil darauf einrichten müssen, im Regelfall des tagespolitischen Streits Bürgerinnen und Bürger gegen sich zu haben. Demokratische Streitkultur ist keine Sache des Wohlbefindens, faire Strukturen machen das öffentliche Leben nicht leichter! Doch liegt der Maßstab für demokratische Erneuerung freilich nicht im persönlichen Wohlbefinden der Akteure und auch nicht in der Effizienz. Vielmehr gilt es, die Erfordernisse aus Prinzipien wie Fairness und Transparenz zu beachten. Die legitimen Selbstbestimmungs- und Mitbestimmungsansprüche von Engagierten müssen im politischen Prozess Berücksichtigung finden. Damit ist die Perspektive des »Mutbürgers« beleuchtet, der nicht nur protestiert und »meckert«, sondern auch bereit ist, bürgergesellschaftliche Mitverantwortung für die Entwicklung von Handlungsalternativen zu übernehmen (vgl. auch Leggewie 2011).
Dafür bedarf es neuer Ermöglichungsformen für bürgerschaftliches Engagement. Deshalb muss es als ein wichtiger Bestandteil jedweder öffentlichen Planung betrachtet werden. Daraus ergibt sich vor allem die Notwendigkeit geeigneter Beteiligungsverfahren und -instrumente. Das staatliche Handeln bedarf darüber hinaus eines adäquaten Leitbildes. Weder der »Aktive Staat« der frühen Bundesrepublik noch der »Schlanke Staat« neoliberaler Provenienz war in der Lage, die Sphäre der Bürgergesellschaft tatsächlich ernst zu nehmen.
Im Leitbild des Aktiven Staates herrschte eine stark hierarchische und paternalistische Vorstellung von Politik vor. »Vater Staat« sorgt für seine Kinder und verlangt dafür Akzeptanz – eine heute allein schon wegen des seit den 1970er-Jahren erheblich gewachsenen bürgerschaftlichen Selbstbewusstseins in der Bevölkerung obsolet gewordene Vorstellung. Der Schlanke Staat wiederum versuchte sich an einer quasilibertären Neuausrichtung von Politik (vgl. Nozick 1976). Der Staat zieht sich so weit wie möglich aus der öffentlichen Daseinsvorsorge zurück und überlässt die Geschicke des Gemeinwesens der »Eigenverantwortung« der einzelnen Bürger – eine Vorstellung, die an einem ökonomisch verengten Freiheitsbegriff ansetzt und daher an der Realität einer sozial tief gespaltenen Gesellschaft völlig vorbeigeht.
In dieser unbefriedigenden Situation eines ungeklärten Staatsverständnisses gibt es schon längst plausible Gegenentwürfe. Einer davon wurde von der Enquete-Kommission des Bundestages zur Zukunft der Bürgergesellschaft erarbeitet. Das Leitbild Bürgergesellschaft »beschreibt ein Gemeinwesen, in dem die Bürgerinnen und Bürger auf der Basis gesicherter Grundrechte und im Rahmen einer politisch verfassten Demokratie durch das Engagement in selbstorganisierten Vereinigungen und durch die Nutzung von Beteiligungsmöglichkeiten die Geschicke des Gemeinwesens wesentlich prägen können. Bürgergesellschaft ist damit zugleich Zustandsbeschreibung und Programm« (Enquete-Kommission 2002, 59, Hervorhebung des Autors).
Diese zunächst abstrakt anmutende Formulierung hat es in sich. Denn in ihr sind alle Elemente eines avancierten Verständnisses von Engagementpolitik als Demokratiepolitik enthalten: Die Bürgergesellschaft ist hier nicht ein Bestandteil von Politik unter vielen. Sie selbst ist vielmehr das demokratische Gemeinwesen. Sie ist das Zentrum von Politik und definiert Sinn und Zweck der staatlichen Ordnung, die kein »Recht« auf Eigenlogik hat, sondern einzig und allein auf die Bedürfnisse der gesellschaftlichen Lebenswelt zugeschnitten sein soll. Egal wie selbstgefällig und selbstbezüglich uns Politik in unoriginellen Wahlkämpfen, hohlen Phrasen und medialen Inszenierungen heute erscheint: Der eigentliche Zweck demokratischer Politik, nur und ausschließlich zur Gestaltung des Gemeinwesens da zu sein, darf darüber nicht verloren gehen. Wenn wir das im Sinn behalten, erschließt sich auch ganz organisch die Rolle der Bürgergesellschaft im politischen Prozess: Sie gestaltet durch Engagement und Partizipation die Ausrichtung des
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