Baustelle Demokratie
Staates und auch der Regulierung des Wirtschaftsgeschehens wesentlich mit. Sie ist diejenige Sphäre, in der die öffentliche Aushandlung über die Gestaltung der staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung stattfindet. Sie ist dazu prädestiniert, weil in ihr im Prinzip nicht Macht und Geld als Steuerungsmedien relevant sind, sondern die gemeinschaftsstiftende Kraft sprachlicher Verständigung – gleichviel wie kontrovers und mühsam die Aushandlungsprozesse im Einzelnen auch sein mögen.
Die oben zitierte Definition des Leitbildes »Bürgergesellschaft« als Zustandsbeschreibung und Programm zugleich öffnet die politische Theorie zudem für die Praxis. Denn eine konsequente Orientierung am Leitbild Bürgergesellschaft hätte ein weitreichendes Programm der Erneuerung demokratischer Strukturen und Arbeitsweisen zur Folge. In den Empfehlungen der Enquete-Kommission ist ein solches Programm freilich nur in Ansätzen zu erkennen. Schließlich wurden vor zehn Jahren erst die Grundlagen für Engagementpolitik gelegt. Heute sieht man angesichts der grassierenden Orientierungslosigkeit offizieller Politik aber, wie vorausschauend das formulierte Leitbild ist. Was wäre nun nötig, die Bürgergesellschaft tatsächlich ins Zentrum der Politik zu rücken? Neben einer breiten öffentlichen Debatte lassen sich an dieser Stelle einige Punkte benennen. Bereits im Verfassungsentwurf des sogenannten »Runden Tisches« am Ende der DDR wurde die wichtige Anregung formuliert, bei allen Gesetzesvorhaben und Regelungen nicht nur Verbandsmeinungen und organisierte Interessen, sondern vor allem auch die potenziell von einer Regelung Betroffenen in den politischen Prozess einzubeziehen. Die gesamte Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik wäre heute eine andere, wenn man Erwerbslose und ihre Sicht der Dinge in den Prozess integrieren würde. Solange man »von oben« definiert, was »Fördern und Fordern« bedeutet, wird das Fordern immer Vorrang vor dem Fördern haben.
Ein anderes Beispiel ist die Debatte über Regelungen zu Datensicherheit, Datenschutz und Urheberrechtsfragen in der digitalen Gesellschaft. Auch hier gilt die Devise, dass sich sinnvoll nur wenig gegen die Sichtweise der Betroffenen, aber sehr viel mit Hilfe und in Zusammenarbeit mit dem Engagement der Betroffenen regeln und vereinbaren lässt. Die systematische Einbeziehung des bürgerschaftlichen Engagements, das es – und das ist das Schöne! – in jedem x-beliebigen Politikfeld gibt, würde Politik wesentlich realitätstauglicher, fairer und gerechter machen. Damit diese Vision einer Politik der Bürgergesellschaft seitens des Staates nicht von der Einstellung gutwilliger Akteure abhängt, bedarf es klarer Bestimmungen und auch neuer Gremien. So könnten beispielsweise zu den öffentlichen Anhörungen im Bundestag jenseits parteipolitischer Interessen repräsentativ ausgewählte Personen und Organisationen der Zivilgesellschaft eingeladen werden. Viele der Anhörungen und Expertenbefragungen sind heute nur mehr zum Schein ergebnisoffen. In Wahrheit versucht die jeweilige Mehrheit, über die Auswahl der Experten ein von vornherein beabsichtigtes Resultat zu erzielen. Die Bereitschaft zu offenen Debatten würde der Politik einen ordentlichen Vitalitätsschub verpassen. Und nicht zuletzt würden die vielen an Politik interessierten, aber heute gänzlich enttäuschten Menschen mit neuer Lust neue Wege der Beteiligung auskundschaften.
Ein weiterer Vorschlag, um die Stimme der Bürgergesellschaft deutlich hörbar zu machen, ist die Einrichtung einer Dritten Kammer neben Bundestag und Bundesrat (vgl. Massarrat 2003). Diese »Bürgergesellschaftskammer« dürfte freilich keine ineffiziente Honoratiorenversammlung darstellen, sondern müsste als ein ernsthaftes Beratungsgremium für Bundestag und Bundesrat anerkannt werden. Wie in föderaler Hinsicht die Bundesebene von den Ländern im Bundesrat beraten und kontrolliert wird, könnte hinsichtlich des Gemeinwesens die Bürgergesellschaft auch offiziell durch eine Bürgergesellschaftskammer eine beratende Stimme in der Politik erhalten. Freilich gälte es in einem solchen institutionellen Schritt Legitimationsprobleme und einen einseitigen Einfluss von privaten Interessen zu vermeiden. Daher sollte die Bürgergesellschaftskammer nicht wie ein Parlament gewählt werden, sondern wie ein offenes Forum ohne Zugangsbeschränkung funktionieren. Der eigentliche Gewinn einer solchen Institution läge nicht in der politischen
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