BE (German Edition)
in den Schlaf weinte. Wie genau er sich damals fühlte, beschreibt er am besten selbst in einer Kurzgeschichte mit dem Titel »Das Internat«, die er 1967 schrieb:
Er erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Das Leintuch, das noch frisch und deshalb steif und fest war, drückte durch seinen viel zu großen Schlafanzug. Ihn fror; nicht so sehr wegen der Kälte – es war erst Anfang September – als vielmehr von der ihm ungewohnten Größe des Raumes und dessen steriler Unfreundlichkeit und Fremdartigkeit. Alle anderen schliefen noch. Seltsam, er war wach, und der Tag war da, hell und unabwendbar. Der erste Tag in seiner neuen Umgebung. Er sah schon die vielen neugierigen Blicke, die ihn abschätzend musterten. Die anderen waren schon zwei Jahre zusammen im Internat und auf der Schule. Wie lange würde er der Neue bleiben?
Langsam ließ er seinen Blick über das Pickelgesicht seines linken Nachbarn gleiten. Wie würde er zu ihm stehen? Vielleicht würde er gar nicht mit einem Neuen reden. Er sah erwachsen für sein Alter aus. Jetzt war sein Gesicht blöde, der Unterkiefer fiel herunter, und die Haut über der rechten Backe war nach oben geschoben. Er wusste, dass er das Pickelgesicht nicht mochte.
Jetzt stöhnte der im Bett an seinem Fußende leise auf und drehte sich im Schlaf. Er konnte ihn nicht sehen. Es war überhaupt, als wäre er das einzige wache Wesen in dieser Welt der Schlafenden. Er war wach, aber er war sich nicht sicher, denn es hatte alles etwas Unwirkliches, Unreales. Sicher, das Fenster war da und der Baum draußen war da, auch die Lampe – eine runde weiße Lampe, die an einem versilberten Stab von der Decke hing – war da. Es fehlte nichts, und er spürte das harte Leintuch durch seinen viel zu großen Schlafanzug und merkte, dass er war. Die Erkenntnis bewegte ihn nicht, denn er war erst zwölf und wusste noch nichts davon. Aber er spürte, dass er war und ein Schauer des Alleinseins überlief ihn. Er war zum ersten Mal in seinem Leben wirklich allein, allein unter vielen Menschen, und er wusste nicht, was das heißt, denn er war erst zwölf. Er hatte die Zeit vergessen, bis die Glocke ihn in den Tag riss. Die Glocke – der Junge wusste auch noch nichts von der Glocke, die sein künftiges Leben unerbittlich und teilnahmslos in bestimmte Zeitabschnitte zerklingen würde. Jetzt war es Tag; die Glocke bestimmte, dass es Tag war, und der Junge wusste nur, sein erster Tag. Dass dieser Tag nur ein Anfang einer Kette war, deren Glieder von der Glocke zusammengeschweißt wurden – davon wusste der Junge noch nichts.
Die Glocke
Wisst Ihr, was es bedeutet, nach der Glocke zu leben? Ihr alle lebt nach der Uhr, die Euch treibt, die Euch sagt, wann es Zeit ist aufzustehen, oder zu essen, und wann es Zeit ist, das Schild »Geschlossen« vor die Ladentür zu hängen. Aber keine Uhr kann so grausam sein wie eine Glocke, die man nicht abstellen kann wie einen Wecker. Sie läutet zwei Mal und Ihr wisst: jetzt hat ein anderer Teil des Tages begonnen. Ihr könnt den Satz Eures Buchs nicht mehr zu Ende lesen, denn Ihr wisst, die Glocke hat geläutet, und es ist nicht mehr erlaubt zu lesen. Ihr müsst jetzt Appetit haben, denn es ist Essenszeit, oder Ihr müsst jetzt müde sein, denn es ist jetzt Schlafenszeit. Vor der Glocke gibt es auch kein Entrinnen. Die Uhr könnt Ihr betrügen, indem Ihr sie nicht beachtet, die Glocke aber müsst Ihr hören. Mögt Ihr im Keller oder im Speicher des Hauses sein, die Glocke wird Euch erreichen. (…) Die Glocke ist ohne Übergang, das ist es, was sie so grausam macht: Sie ist da, ohne dass sich warnende Schritte genähert hätten. Heimtückisch überfällt sie Euch bei jeder Arbeit; sie lässt Euch nichts zu Ende machen, sie will zerhacken und nach ihrem Läuten sind die Maßstäbe für falsch und richtig verschoben. Die Glocke stumpft Euren Willen ab, bis Ihr nach ihr lebt – gleichgültig und exakt, wie sie selbst. Und Ihr werdet Euch Eures Stumpfsinns wegen hassen, wie Ihr die Glocke hasst, sie die Glocke (…).
Schon bevor Bernd mir den Text zu lesen gab, hatten wir viel über das Internat geredet. Er war der Meinung, dass es diese Bezeichnung eigentlich gar nicht verdiente.
»Das war eher eine Aufbewahrungsanstalt. Da gab es keinerlei erzieherisches Konzept. Nachmittags gab es nicht einmal einen Aufenthaltsraum. Wenn es draußen regnete und man nicht am Studierpult sitzen wollte, dann war die einzige Alternative, sich in den Gängen aufzuhalten. Diese
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