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BE (German Edition)

BE (German Edition)

Titel: BE (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Eichinger
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schreckliche Langeweile! Es gab ja nichts zu tun. Wir haben dann immer ein Spiel gespielt, bei dem wir diese Schlappen, die wir alle innerhalb der Heimanlage tragen mussten, an die Wand geschmissen haben. Du kannst dir nicht vorstellen, wie nervtötend langweilig das war. Wenn meine Eltern mich wenigstens in ein gutes Internat gegeben hätten – wie St. Blasien oder so –, wo man tatsächlich Wissen vermittelt bekommt und etwas fürs Leben lernt. Wo versucht wird, die Persönlichkeit positiv zu formen, oder wo man Freunde fürs Leben trifft. Aber nein, ich saß in diesem Drecksheim fest, wo es nur darum ging, uns ruhigzustellen und zu disziplinieren – alles nur weil der Leiter ein entfernter Onkel von mir war. Das war, als wäre ich einfach abgeschoben worden!«
    Bernd erzählte mir, in dem Moment, als ihm klar wurde, dass ihn seine Eltern tatsächlich verlassen hatten und er im Internat auf sich alleine gestellt war, er seinen Eltern jegliche Autorität über sein Leben absprach.
    Im Studiersaal hatte jeder Schüler eine Art Kastenspind, der auf den Schreibtisch aufgebaut war. In diesen Spind hatte sich jeder Fotos von zu Hause gehängt. Vor lauter Heimweh starrten alle stundenlang in ihren Schrank.
    »Das, was das Internat irgendwie erträglicher gemacht hat, war das Bewusstsein, dass es den anderen Jungs genauso dreckig ging wie einem selbst. Die sind ja genauso einsam wie man selbst. Deswegen hat man dann einfach kein Recht, sich im Selbstmitleid zu suhlen. Und das verbindet einen auch mit den anderen«, entgegnete Bernd oft, wenn ich fragte, was das Internat wohl für Spuren bei ihm hinterlassen hatte. Das klang mir immer arg nach Resignation, aber vor allem war diese Relativierung ein Überlebensmechanismus – nicht nur damals, sondern auch, als wir darüber sprachen. Denn obwohl Bernd wütend auf seine Internatszeit in Deggendorf war, so wäre es selbstzerstörerisch gewesen, sich von dieser Wut kontrollieren zu lassen und noch im nachhinein zum Rumpelstilzchen zu mutieren.
    »Die Frage ist ja, wäre ich glücklicher gewesen, wenn ich zu Hause aufgewachsen wäre? Vielleicht wäre ich da so in das familiäre Drama hineingezogen worden, mit dem meine Schwester jahrelang gekämpft hat, dass ich gar nicht den Absprung geschafft hätte. Vielleicht wäre ich einfach nur auf dem Land versandet.«
    Während Bernds Schwester Moni dem Erwartungsdruck der Eltern entging, indem sie nach der Mittleren Reife von der Schule abging, ein Kind bekam und heiratete, war Bernd allein schon durch die räumliche Distanz vom Elternhaus abgegrenzt. Alle vier Wochen durfte er nach Hause fahren, doch bei einem Vergehen oder Regelverstoß wurde die Heimfahrt gestrichen. So kam es oft vor, dass Bernd nur alle acht Wochen oder sogar seltener nach Hause fahren durfte.
    Um die Langeweile totzuschlagen, beantwortete Bernd mit einem Freund eine Zeitungsannonce. Darin wurden Schüler gesucht, die Fanbriefe an einen männlichen Jungstar der sechziger Jahre beantworten sollten.
    »Da kamen teilweise Säcke voll mit Briefen von Fans – die meisten davon Mädchen. Denen haben wir schreckliche Dinge geschrieben. Ich muss zugeben, darauf bin ich nicht stolz, aber uns war halt schrecklich langweilig, und es war faszinierend – im nachhinein schockierend – zu sehen, zu was sich Mädchen bereit erklären«, erzählte mir Bernd ein wenig verschämt, als wir wieder einmal über Frauen sprachen und das Rätsel, warum sich viele Frauen von irgendwelchen Deppen das Selbstbewusstsein, die Energie und die Würde rauben lassen. Die »schrecklichen Dinge« bestanden vor allem darin, den Mädchen zu erzählen, dass er (sprechend für den männlichen Jungstar) im Trubel des Showbusiness einsam sei und sich so sehr nach einem Mädchen sehnte, das ihn wirklich verstand … und ob sie ihm nicht ein Nacktfoto von sich schicken könne, damit er etwas habe, an dem er sich nachts allein im Hotelzimmer freuen könne.
    »Und du glaubst es nicht, wie viele Nacktfotos wir zugeschickt bekamen!«, so Bernd.
    Außerdem entdeckte er während dieser Zeit etwas, was sein Leben nachhaltig beeinflussen sollte. In einem Song von The Velvet Underground wird das so beschrieben: Bernds Leben »was saved by rock ’n’ roll«.
    »Ich kann mich noch genau erinnern, als ich zum ersten Mal die Beatles hörte. Der Song war ›I Wanna Hold Your Hand‹. So etwas hatte ich noch nie gehört! Ich war absolut elektrifiziert – total angefixt. Ich wusste: Alles, was bisher passiert war,

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