Beast
ist eine stockfinstere Nacht, Mond und Sterne sind von Wolken verdeckt. Natürlich haben sich unsere Augen an die Dunkelheit gewöhnt, aber es ist trotzdem schwer zu erkennen, was eigentlich was ist.
Ich bilde mir nichts ein. Ich weiß, dass sich ganz in der Nähe ein vier Meter langes Reptil tummelt, außer es hat sich aus dem Staub gemacht. Ich habe gelesen, dass sie auch über Land wandern, um sich eine neue Wasserstelle zu suchen. Aber das ist unwahrscheinlich. Er hat sich dran gewöhnt, hier sein Fressen zu bekommen. Trotzdem hoffe ich insgeheim immer noch, dass ihn die Kälte umgebracht hat.
Vielleicht findest du mich jetzt gemein. Das Krokodil kann schließlich nichts dafür, dass es jemand in dieses Land geschmuggelt hat. Von Rechts wegen müsste es mit lauter anderen Krokodilen in irgendeinem indischen Fluss leben. Und wieso soll es eigentlich kein Fleisch fressen? Ich esse schließlich auch welches. Aber wie du ja weißt, habe ich mich jahrelang um das Vieh gekümmert. Ich habe mein ganzes Geld für Fleisch verpulvert und x-mal gelogen, damit niemand was mitkriegt. Und was ist der Dank? Das Scheißvieh wollte mich fressen! Wenn ich |230| tot wäre, könnte mir jetzt alles egal sein. Dabei hatte ich gleich zu Anfang die richtige Idee. Ich hätte mir irgendwo eine Knarre besorgen und es abknallen sollen. Überleg mal: Ich bin hier mit einem Laster angerückt, einem Mädchen und einem Schmied. Ich habe einen Käfig beschafft und kiloweise Fleisch aus dem Supermarkt. Ich habe einen Hebearm dabei und ein zehn Meter langes Seil. Wenn es mir gelungen ist, das alles aufzutreiben, wieso habe ich mir dann keine Knarre organisiert?
Carol schläft nicht, das merkt man daran, wie sie atmet. Seit ich ihr das mit Selby erzählt habe, hat sie keinen Piep mehr gesagt. Jetzt kann sie wieder heimgehen, ihren Computer anschmeißen, die fehlenden Unterlagen tippen und in meine Akte heften. Der Baumstamm drückt mich an den Rippen. Ich rutsche ein bisschen herum, damit ich es bequemer habe. Wie oft können wir das hier wohl noch durchziehen? Jetzt, wo die Polizei hinter mir her ist, muss es in den nächsten paar Tagen klappen. Ob mich Jimmy verpfeift, wenn ich noch mal hingehe und mir frische Klamotten hole? Ein Bad könnte ich auch gebrauchen. Ich schaue zu Eric hoch. Er sitzt jetzt über uns und hält sich krampfhaft an seinem Ast fest. Ob ich ein paar Tage bei ihm wohnen kann, bis wir das Krokodil eingefangen haben?
Ich könnte natürlich auch wieder runterklettern. Ich könnte zurück in die Stadt laufen oder trampen, mein Auto holen und einfach drauflosfahren. Vielleicht nach Norden. Ich könnte von vorn anfangen, irgendwo, wo mich die Polizei nicht sucht. Ins St. Mark’s kann ich nicht mehr, also kann ich nirgendwohin. Nein, stimmt gar nicht: Ich kann jetzt überallhin.
|231| Meine Pobacke ist eingeschlafen. Ich verlagere mein Gewicht und Carol beschwert sich, dass ich sie zerdrücke.
»Das hier ist doch Schwachsinn«, sagt Eric vor sich hin. »Was mache ich hier überhaupt?«
Es hört sich nicht an, als ob er eine Antwort erwartet.
»Wie geht’s Terry?«, frage ich Carol leise.
»Keine Ahnung.«
Wir verfallen wieder in Schweigen.
Mein Kleiner hat doch bestimmt Hunger, oder? Er wittert unter Garantie das Fleisch. Ich kann es ja selber fast von hier aus riechen. Was ist bloß los mit ihm? Vielleicht ist er wirklich tot.
Wind kommt auf. Kleine Wellen schwappen an die Falle. Trotz Mantel, Decken und Carol wird mir kalt. Es fängt bei den Füßen an und kriecht langsam höher. Als ich klein war, ist ein Betreuer mal mit einer ganzen Gruppe von uns in die Millennium-Kuppel gegangen. Ich weiß nicht, warum sich die Zeitungen so darüber aufgeregt haben, ich fand’s cool da. Mir hat besonders ein Apparat gefallen, wo man durchgehen und auf einem Bildschirm sehen konnte, wie viel Wärme man abstrahlt. Die wärmsten Stellen waren rot, die kältesten blau. Mir war’s peinlich, weil ich angeblich zwischen den Beinen am wärmsten war. Ich war damals zwölf oder dreizehn, ein Alter, in dem man nur Sex im Kopf hat. Wenn ich jetzt vor dem Bildschirm stehen würde, wäre ich bestimmt von oben bis unten blau.
Es tut sich was, das spüre ich. Die anderen spüren es auch, obwohl keiner es ausspricht. Als hätte uns irgendwas |232| unsanft aus unseren Gedanken geweckt und uns wieder bewusst gemacht, wo wir sind: auf dem Baum, am See, beim Käfig.
Eric gibt einen erstickten Laut von sich und ich spähe zum Ufer
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