Beautiful Americans - 01 - Paris wir kommen
den Teppich und setze mich wie ein ganz normaler Mensch auf die Couch. Warum liege ich auch dauernd auf dem Boden? Wenn mich Mme. Marquet sehen würde, würde sie mich für einen noch größeren Freak halten als ohnehin schon.
Ich blicke zu einem Porträt von M. Marquets Ur-Ur-Ur- Großvater hoch, das über dem Kaminsims hängt. Mir dreht sich der Magen um, als ich mir plötzlich vorstelle, wie Alex es mit einem Filzstift verschandelt und eine Zunge hinmalt, die aus dem strengen Mund des alten Patriarchen hervorschaut.
Mir wird bewusst, dass ich die Marquets eigentlich überhaupt nicht kenne. Ich habe keine Ahnung, was für Menschen sie sind. Aber wer weiß, woher das Schundmagazin kommt? Wahrscheinlich ist die Sache gar nicht so seltsam, wie ich jetzt denke. Sagen das nicht immer alle über uns Amerikaner? Dass wir prüde sind und uns für den menschlichen Körper schämen? Und das Magazin lag ja schließlich nicht offen herum, sondern gut versteckt.
Trotzdem fühle ich mich nicht sonderlich wohl bei dem Gedanken, dass M. Marquet diese Zeitschrift besitzt. Ich bin siebzehn und werde dieses Jahr noch achtzehn. Habe also fast das Alter der Mädchen in der Zeitschrift. Ich habe einen Kloß im Hals. Soll ich wirklich alles aufs Spiel setzen - das einzige Zuhause, die einzige Familie und den einzigen
Schutz, den ich auf der Welt noch habe -, um eine blöde Party zu schmeißen? Nur damit ich kein so schlechtes Gewissen habe, dass ich Jay versetzt habe, obwohl ich es mit ihm ohnehin bloß halbherzig angegangen bin? Nur um zu Alex' Freunden zu gehören statt zu ihren Feinden?
Was würde meine ältere Schwester jetzt wohl an meiner Stelle tun?
Natürlich würde Annabel die Party geben. Und es würde die beste Party werden, die alle je erlebt haben. Und am nächsten Tag würde Annabel den ganzen Müll zusammenkehren, das Haus schrubben, bis alles glänzt, und keiner würde je etwas davon erfahren.
Denn wenn es etwas gab, worin meine Schwester gut war, dann darin, Anzeichen und Beweise zu verbergen.
11. OLIVIA Raison d’être – oder der Sinn des Lebens
»Bonjour!«, begrüßt mich eine freundliche Stimme, als ich gerade aus dem Gitterfahrstuhl humple. »Olivia!«
Na toll, denke ich finster. Das hat mir gerade noch gefehlt! Ich bin müde vom Fußmarsch von der Schule nach Hause, müde von der vergangenen Woche, in der ich nun wieder in die Schule gehe und versucht habe, den witzig gemeinten Kommentaren darüber, wie ich mir meine Verletzung zugezogen habe, auszuweichen. Ich habe mich dazu gezwungen, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, und habe die Scherze über mich ergehen lassen, aber innerlich koche ich vor Ärger und Schmach.
Es ist der Junge aus meinem Bett - Mme. Rouilles Sohn aus der Sorbonne. Ein abgegriffenes Notizbuch unter den Arm geklemmt, trägt er sein Fahrrad die Wendeltreppe hoch und schnalzt mitfühlend mit der Zunge, als er meine Krücken sieht.
Durch meinen Unfall auf Sara-Louises Party habe ich mir einen Bänderriss zugezogen, aber noch schlimmer als die hämmernden Schmerzen ist die erzwungene Ruhe.
Seit ich zehn war, tanze ich täglich mindestens vier Stunden nach der Schule. Als sich herausgestellt hat, dass Brian autistisch ist, haben mich meine Eltern gewarnt, dass sie mich vielleicht nicht mehr in den Ballettunterricht schicken könnten. Dann bemerkte der Tanzlehrer aber eines Tages, als meine Mom mit Brian auf mein Trainingsende wartete, dass Brian im Takt der Musik mit dem Fuß auf den Boden klopfte. Seine Betreuer dachten, dass nicht nur die Musik, sondern auch der soziale Aspekt, in meiner Klasse zu sein und sie zu beobachten, Brian half. Und so erlaubte mir meine Mom, so viele Klassen zu besuchen, wie ich wollte, und als ich schließlich so weit war, auf Spitze zu tanzen, war es um mich geschehen.
Es gibt nichts Beruhigenderes als degages am barre zu zählen, keinen besseren Seelenbalsam als diesen Sekundenbruchteil bei einem tour jete, wenn man wirklich fliegt. Das ist eine Freude, ohne die ich nicht mehr leben kann.
Aber in den letzten Wochen war ich dazu gezwungen.
»Maman hat mir erzählt, dass du dich verletztest«, sagt er besorgt und schiebt sein Fahrrad auf mich zu. Sein Englisch ist immer nur ein kleines bisschen daneben, genau wie bei seiner Mutter. »Ich glaube, ich habe mich noch gar nicht richtig vorgestellt: Je suis Thomas Rouille.«
»Bonjour, Thomas«, sage ich und beuge mich vor, damit er mich auf die Wangen küssen kann. »Enchantee.«
Natürlich gibt es
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