Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
wusste nicht, inwieweit ich ihr trauen darf. Doch mir war noch nie der Gedanke gekommen, dass sie richtig heimtückisch und bösartig sein könnte. Rachsüchtig. »Sag mir bitte, dass das nicht wahr ist.«
Annabel fängt an zu weinen.
»Hör auf!«, schreie ich sie an. »Hör auf zu heulen! Du verdienst es gar nicht, um sie weinen zu dürfen!«
Ich wende mich ab. Wenn ich Annabel noch länger ansehe, muss ich sie ohrfeigen. Ich habe Angst, dass ich mich, wenn ich im Bad bleibe, auf sie stürze und ihr die langen Zöpfe in dicken Büscheln ausreiße.
Zu denken, dass ich mit dem Greyhound-Bus von Vermont nach New York gefahren bin und die ganze Zeit angenommen habe, dass meine Eltern meinetwegen bald alles verlieren würden. Jedes Mal, wenn der Bus an einem Streifenwagen vorbeigekommen ist, habe ich den Atem angehalten und mir vorgestellt, dass meine Eltern darinsitzen, mit Handschellen. Als Dave mir, nachdem ich in Paris angekommen war, erzählt hat, wie alles gelaufen ist, wäre ich am liebsten gestorben.
Stattdessen habe ich mich dazu durchgerungen, ein neues Leben anzufangen. Aber niemals ist es mir in den Sinn gekommen, dass alles, was ihnen zugestoßen ist, allein Annabels Schuld war.
Annabel beugt sich zu mir und hält mich am Arm fest, sodass ich nicht gehen kann.
»Bitte, PJ, versuch doch zu verstehen, dass ich das nur für dich getan habe! Sie waren kurz davor, dein Leben zu ruinieren, unser aller Leben. Was wäre, wenn du weiter dort geblieben, achtzehn geworden und auch darin verwickelt worden wärst?«
Ich schüttle sie ab und wische mir mit dem Ärmel über mein Gesicht. »Bitte hör auf zu reden, Annabel. Sei einfach still.«
Plötzlich spüre ich ihn: einen Riss tief in meinem Herzen, dort, wo ich Mom und Dad und Annabel mit mir herumtrage.
Wie betäubt und gefühllos bitte ich Annabel, zu Ende zu erzählen. Auch wenn es nur noch schlimmer werden kann - aber jetzt muss ich den Rest wissen.
»Du bist also aus Vermont abgehauen, nachdem du ihnen alles gesagt hattest.«
Ohne den Kopf zu heben, antwortet Annabel. »Ja. Sie haben mir für meine Informationen gedankt und gesagt, dass sie mit mir in Kontakt bleiben würden. Sie meinten, es sei richtig von mir gewesen, zu ihnen zu kommen. Als ich wieder in mein Auto auf dem Parkplatz der Polizei gestiegen bin, habe ich eine Weile nur dagesessen und überlegt, ob ich mich mitsamt dem Auto von einer Brücke stürzen soll. Es war so falsch. Ich weiß, dass es falsch war.«
»Warum hast du es nicht getan? Dich von der Brücke gestürzt, meine ich?« Ich weiß, das ist grausam, aber im Moment empfinde ich ihr gegenüber nur Hass. Tiefste Verachtung.
»Ich habe den Wagen verkauft und bin nach Irland gegangen«, sagt Annabel. »Ich dachte, das Leben wäre noch immer lebenswert, wenn ich nur woanders hingehen würde.«
»Konnte die Polizei dich denn dort nicht finden?«
»Wahrscheinlich hätten sie es früher oder später getan. In Dublin habe ich mir einen Pass gekauft. Den habe ich gebraucht, um herzukommen, weil ich wusste, sie würden nicht so genau hingucken, wenn ich aus einem anderen EU- Staat komme.«
»Aber Marco weiß, dass das nicht dein richtiger Pass ist?«
»Ja - der hier lautet auf Megan. Den auf Annabel habe ich vernichtet. Verstehst du?«
Annabel zieht einen roten Pass aus der Tasche. MEGAN O'LEARY steht darauf. Aber es ist ein Foto von Annabel drin, ungeschickt vorne eingeklebt.
Aus irgendeinem Grund rege ich mich nicht mehr auf, auch wenn die Geschichte immer haarsträubender wird. Annabel steckt in Schwierigkeiten und reitet sich selbst tagtäglich nur noch weiter rein. Wenn die Polizei sie findet - und das wird sie irgendwann ganz sicher -, bekommt sie großen Ärger, weil sie einfach so, mir nichts dir nichts, ins Ausland geflogen ist.
Der Riss wird breiter, der Fleck tief in meinem Inneren größer und größer. Was sich gerade eben noch sicher und geborgen angefühlt hat, seit ich meine einzige Schwester gefunden habe, fühlt sich jetzt an wie ein dunkler Fluss des Schmerzes und der Angst. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich mich selbst im Gefängnis bei meinen Eltern, bei Annabel.
»Du hast keinem gesagt, dass du in Rouen bist, oder?«, fragt Annabel mich.
»Nein«, antworte ich, noch immer so steif wie ein Brett. Ich fühle mich wie losgelöst von meinem Körper, so als wäre es mir egal, was mit mir geschieht, wenn ich nur dieses dunkle Gefühl zum Verschwinden bringen kann. »Keiner weiß, dass ich hier
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