Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
sondern schneidet den Rest selbst weiter. Sie wird wohl immer glauben, dass sie alles besser kann und weiß als ich. »Ich wusste, dass er vorhatte, herzukommen, um mich zu sehen. Er hatte mir gesagt, dass ich ihn nach dem Abendgottesdienst um sechs Uhr in der Kathedrale treffen soll. Ich hatte keine Ahnung, ob er wirklich kommen würde! Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, hat er gesagt, er würde am Silvesterabend kommen. Und das hat er auch getan. Ist das nicht romantisch?«
»Er ist ein Perversling«, sage ich. »Welche Drogen habt ihr letzte Nacht genommen?«
Annabel wirft mir einen wütenden Blick zu.
Marco kehrt mit dem Chardonnay zurück. Mir entgeht nicht, dass er meiner Schwester kein Restgeld zurückgibt, er öffnet nur die Flasche und schenkt sich ein großes Glas ein. Annabel gießt sich ebenfalls ein und gibt auch mir einen kleinen Schluck.
Sie fordert uns auf, auf den Neuanfang anzustoßen. »Auf die Bio-Wolle!«, ruft sie.
Der Gedanke ist so absurd, dass ich lachen muss. Da kann ich mir ja besser Alex und Zack vorstellen, wie sie Schafe hüten und jedes Jahr im Frühling scheren, als Annabel und diesen Marco. Ich sehe es ganz deutlich vor mir: Annabel, plötzlich trunken von freier Liebe und einem glücklichen Leben, beschließt mitten in der Nacht, alle Schafe freizulassen. Sobald ihr klar würde, wie anstrengend es ist, Schafe zu hüten, würde sie irgendeinen Vorwand finden, warum sie in der freien Wildbahn besser dran wären.
Und Marco? Ich beobachte ihn dabei, wie er mit dem Steakmesser, mit dem Annabel gerade Spargel geschnitten hat, zwischen seinen Zähnen herumstochert.
Annabel stellt sich wieder an den Herd, sie behauptet, sie könne die besten Omelettes machen. Sie weist mich an, mich um den Saft zu kümmern. Na klar, mal wieder die blödeste Aufgabe.
Als wir endlich essen können, ist Marco bereits betrunken und Annabel sieht so aus, als würde sie mit ihm am liebsten sofort wieder ins Bett springen. Ich schiebe mir häppchenweise das Omelette in den Mund und bleibe stumm. Als schließlich alles abgewaschen und Annabel wieder auf die Couch umgezogen ist, wo sie ein Nickerchen hält, bitte ich Marco, zu gehen.
»Warum?«
»Kannst du denn nirgendwo anders hin?«
»Nicht wirklich«, sagt Marco.
»Du wohnst hier also? Quasi dauerhaft?«
»Oui. Bis wir ein Stück Land für unseren Bauernhof gefunden haben«, entgegnet Marco. »Annabel fand das okay.«
Es ist aber überhaupt nicht okay.
»Ich werde jetzt ins Schlafzimmer gehen«, sage ich so ruhig wie möglich. »Und wenn ich wieder rauskomme, bist du bitte nicht mehr da.«
»Was glaubst -«
»Geh!«, knurre ich. »Hau ab!«
Mir ist der Gedanke unerträglich, den Rest des Tages mit den beiden in einer Wohnung zu sein. Ich muss in Ruhe darüber nachdenken, wie ich meine Schwester Marcos Einfluss entziehen kann.
Ich mache das Bett und versuche, den winzigen Raum aufzuräumen.
Als Annabel nach Rouen kam, lernte sie einen Mann kennen, der gerade jemanden zum Hüten der Wohnung suchte, in der seine kürzlich verstorbene Mutter gelebt hatte. Wenn sie sich um die Wohnung kümmern würde, bis er so weit war, dass er sie verkaufen konnte, höchstwahrscheinlich im Frühling, könnte sie mietfrei darin wohnen. Aber er wollte ihr nichts zahlen. Er nahm an, dass sie sich noch einen anderen Job suchen würde, und dass er ihr den Wohnraum überhaupt kostenlos überließ, war ja schon großzügig genug. Seitdem verdient sie sich ein bisschen was dazu, indem sie an ein paar Tagen in der Woche putzen geht. Nicht viel, aber genug, um sich etwas zu essen kaufen zu können.
Und ganz offensichtlich auch zu trinken. Um die Spüle herum stapeln sich die leeren Weinflaschen.
Die Vorstellung, wie Annabel putzen geht, bringt mich zum Lachen. Sie ist berühmt-berüchtigt für ihre notorische Unordnung. Dazu muss man sich nur mal die Wohnung hier ansehen. Zu Hause sah ihre Zimmerseite immer so aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Irgendjemand - meine Mom, Dave oder ich - hat immer hinter ihr hergeräumt.
Die Kleider der verstorbenen Frau wurden alle aus dem
Schrank gerissen - wahrscheinlich von Annabel, die sehen wollte, was sie noch tragen kann. Also hänge ich alles wieder auf und versuche, die saubere von der Schmutzwäsche zu trennen. Im Bad steht eine alte Waschmaschine, die ich anwerfen werde. Für den Sommer ist eine Wäscheleine vor dem Fenster gespannt; im Winter muss man die Kleidung zum Trocknen wohl im Bad aufhängen.
Das ist so
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