Bedrohung
berstenden Glases. Instinktiv warf sie sich zu Boden; von ganz in der Nähe hörte sie einen gellenden, angsterfüllten Schrei, der so abrupt aufhörte, wie er begonnen hatte. Dann herrschte tödliche Stille, die nur vom heulenden Wind durchbrochen wurde, der durch die geborstenen Scheiben hereinwehte. Nichts regte sich. Niemand gab einen Laut von sich.
Langsam und zittrig kam Gina auf die Beine. Als sie sich umschaute, sah sie die totale Zerstörung. Etwa zwanzig Meter von ihr entfernt klaffte in der wandhohen Fensterfront der Südseite ein riesiges Loch. Darunter erstreckte sich über die gesamte Breite des Raumes eine lodernde Feuerspur, deren schwarze Rauchschwaden auf sie eindrangen wie eine Armee von Gespenstern. Ringsum kamen andere Gäste mit schockblassen Gesichtern ebenso wacklig auf die Beine. Viele hatten tiefe Schnittwunden davongetragen, einige waren völlig blutüberströmt. Eine Frau wanderte geistesabwesend und ziellos durch den Raum und hielt dabei noch immer ihren Drink in der Hand. Die zehn Zentimeter lange Scherbe, die aus ihrem Bauch ragte, schien sie nicht zu bemerken, obwohl ihr weißes Cocktailkleid inzwischen rot getränkt war.
Gina wandte den Blick ab. Sie selbst stand ebenfalls zu sehr unter Schock, so sehr, dass sie nicht einmal Schwindelgefühle spürte. Doch dann sah sie die fünf oder sechs Leichen, dicht am Feuer. Eine trug die Uniform der Security-Firma, neben einer zweiten lag eine Fernsehkamera. Ein Mann im Smoking war über eine Frau gestürzt, bei der es sich möglicherweise um die TV-Reporterin handelte, die Gina noch vor wenigen Minuten gesehen hatte.
Dann stockte ihr der Atem. Der Mann im Smoking sah aus, als könnte es Matt sein.
Oh Gott, nein. Bitte nicht.
Sie musste sichergehen, deshalb drängte sie sich, die Hitze und die Flammen und die Verwundeten ignorierend, durch die Masse der geschockten, blutenden Gäste hindurch. Ein großer, etwas älterer Mann, dem eine Wange zerfetzt worden war, stolperte auf sie zu, während das Blut aus seiner Wunde schoss. Instinktiv wich sie ihm aus, schaute ihn nicht einmal an, richtete ihren Blick nur auf den Mann im Smoking. Durch den dichter werdenden Rauch war es schwierig, ihn zu erkennen. Es sah aus, als hätte sein Haar dieselbe Farbe wie Matts.
Die Hitze wurde langsam unerträglich, brannte auf ihrer Haut. Hinter ihr wurden die ersten Stimmen laut, einige Männer versuchten, das Kommando zu übernehmen. Gina war nur noch wenige Schritte von den Leichen entfernt und erfasste bereits, dass die Frau unter dem Mann tatsächlich die Fernsehreporterin war. Fast schien es, als würde sie schlafen, wäre da nicht die klaffende Spalte in ihrem Kopf gewesen, die den Schädelknochen freilegte. Der Mann im Smoking hatte sein Gesicht in ihrer Schulter vergraben, die beiden lagen wie in inniger Umarmung da.
Gina blinzelte, um den brennenden Rauch zu vertreiben, und beugte sich zu ihm hinunter. Der Mann bewegte sich nicht, und sein Smoking war von Hunderten kleiner Scherben zerrissen, die sich in seinen Rücken gebohrt hatten. Gina hatte noch nie eine Leiche gesehen, trotzdem wusste sie, dass er tot war. Sie schluchzte laut auf. Es war schrecklich, wenn in einem ein Funken Hoffnung glimmte, der dann so brutal ausgetreten wurde.
Doch dann spürte sie eine Hand am Arm, die sie mit festem Griff hochzog. Sie fuhr herum und sah Matt, der sie mit blutenden Lippen und offen herunterbaumelnder Fliege erleichtert ansah.
»Nun komm endlich«, sagte er. »Gehen wir.«
Tina stand neben dem Wagen und starrte wütend die Flammen an, die aus der Fensterfront von The Shard schlugen. Bolt sprach hektisch in sein Funkgerät. Immer wieder kippte seine Stimme, weil er das, was er eben gesehen hatte, noch nicht fassen konnte.
»Eine Rakete hat die Aussichtsplattform von The Shard getroffen!«, schrie er. »Ich wiederhole: Eine Rakete hat die Aussichtsplattform getroffen. Dort oben ist ein Feuer ausgebrochen.«
Obwohl die Flammen jetzt fast die gesamte Front erfasst hatten, glaubte Tina, hinter dem Rauchvorhang die Silhouetten von Menschen ausmachen zu können. Der Anblick ließ ihre Eingeweide rebellieren. Alle ihre Bemühungen, die Stinger zu finden, waren vergeblich gewesen. Wäre sie gemäß dem Ultimatum der Terroristen tatsächlich erst um zwanzig Uhr abgefeuert worden, hätten sie den Anschlag vielleicht verhindern können. Doch den Angriff eine Viertelstunde früher zu starten bewies die unglaubliche Gefühlskälte der Terroristen.
Tina war zum
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