Beerensommer
Zeit hatte er gemeint, die Marie Oberdorfer sei das hübscheste Mädchen weit und breit, und anständig und tüchtig dazu. Johannes sei ein echter Glückspilz.
Mit der hohlen Hand schüttete sich Johannes Wasser ins Gesicht. Er war erhitzt, so, als ob er in der Sommerhitze gerannt wäre, dabei zog von draußen bereits kühle Abendluft durch das halb geöffnete Fenster.
Auf einmal war ein Schatten auf sein Glück gefallen. Unsinn, schalt er sich. Aber wenn er ehrlich war, merkte er, dass da plötzlich dunkle Ahnungen waren, die an die Oberfläche seines Bewusstseins drangen, Ahnungen und Vermutungen, denen er keinen Namen geben wollte, die ihn in letzter Zeit jedoch immer wieder beschlichen hatten.
»Johannes?«, kam es zögernd von der Tür. Eugen war in der Zwischenzeit fertig und schickte sich an zu gehen.
Beunruhigt drehte sich Johannes herum. »Was ist?«
»Ich muss dir etwas sagen ...«
Johannes spürte plötzlich, wie sein Herz zu klopfen begann. Bis in die Kehle klopfte es und nahm ihm den Atem.
Eugen zögerte, man konnte die Anspannung förmlich mit den Händen greifen. Er holte tief Luft und sagte nach kurzem Zögern gepresst: »Also ... es ist ... wie soll ich es dir sagen? Ach, es ist ... es ist nichts. Ich meine nur, der alte Dederer hat heute Mittag einen Schlaganfall gehabt! Als ich von der Arbeit nach Hause gekommen bin, ist es gerade wie ein Lauffeuer durch das Dorf gegangen.«
Johannes lauschte den Worten nach. Eugen hatte etwas anderes sagen wollen, das spürte er genau! Seine Stimme hatte sich plötzlich verändert. Eugen schlüpfte jetzt blitzschnell zur Tür hinaus, als wollte er allen weiteren Fragen ausweichen.
Trotzdem nahm die Nachricht für einen Augenblick Johannes’ Interesse gefangen. Er dachte an Friedrich, der vor kurzem Vorarbeiter im Sägewerk geworden war. Friedrich und seine »Möglichkeiten«. Die Leute redeten offen darüber, dass Lisbeth Dederer in ihn verliebt war, jeder, der Augen im Kopf hatte, konnte es sehen. Der Weckerlin würde in ein gemachtes Nest fallen, trotz seiner Weibergeschichten. An dieses Gerede musste Johannes denken. War jetzt ein wichtiger Zeitpunkt der Entscheidung für Fritz gekommen? Der Gedanke schmerzte Johannes plötzlich. Nicht so, Fritz!, dachte er. Er musste mit ihm reden, am besten noch heute.
Aber trotz dieser Neuigkeiten – er hätte so gerne gewusst, was Eugen Rentschler eigentlich hatte sagen wollen.
31
Louis Dederer lag leise keuchend in seinem Bett. Viele spitzenbesetzte Kissen hatte man unter seinen Rücken gestopft und vor ihrem blendenden Weiß hob sich das fahlgelbe, eingefallene Gesicht gespenstisch ab.
»Komm her«, flüsterte er. Es war ein kaum mehr verständliches Lallen, aber Friedrich hatte verstanden. Er trat näher, schob sich vorsichtig hin zu diesem Gespenst mit den in tiefen Höhlen liegenden Augen und dem seltsam schiefen Mund. Die ganze linke Gesichtshälfte schien nach unten zu hängen und auch der linke Arm lag seltsam leblos auf der seidenen Steppdecke. Das Sprechen schien ihm unendlich schwer zu fallen, trotzdem formte sein Mund Worte, die man als Aufforderung deuten konnte, sich einen Stuhl zu holen und sich neben ihn zu setzen.
Als ihm Friedrich endlich gegenübersaß, so nah wie möglich, damit er verstehen konnte, was man ihm mitteilen wollte, tauchte auf Louis Dederers Gesicht plötzlich ein Lächeln auf. Es war ein Abglanz dieses bekannten verschwörerischen Lächelns und für einen Moment blitzte wieder etwas auf vom alten Dederer, das Friedrich so vertraut war.
»Du, du«, flüsterte er, räusperte sich und hob etwas den Kopf.
»Du mit deinen Weibergeschichten.« Die Worte rang er sich förmlich ab, aber man konnte sie ganz gut verstehen.
Friedrich war verblüfft. Was sollte diese Einleitung zu einem Gespräch, von dem er sich noch nicht so richtig vorstellen konnte, welchem Zweck es dienen sollte?
Es sei ihm sehr wichtig, hatte Lisbeth heute Morgen im Kontor gesagt. Heute noch wolle der Vater ihn sprechen, obwohl es ihm immer noch sehr schlecht gehe. Dabei hatte sie ihn mit ihren hervorquellenden blauen Augen durchdringend angestarrt.
Er hatte mit den Achseln gezuckt. »Von mir aus. Strengt es ihn auch nicht zu sehr an?«
Lisbeth hatte daraufhin leicht gelächelt. Es war dieses spöttische Lächeln, er kannte dieses Lächeln genau. »Natürlich wird es ihn anstrengen, der Doktor hat’s eigentlich verboten, aber hat sich mein Vater jemals um etwas anderes gekümmert als um seinen eigenen
Weitere Kostenlose Bücher