Befehl von oben
verrieten anderen, wo die eigenen Schwächen lagen, und es gab immer welche, die sie gegen einen nutzten – deshalb verbarg man sie im Laufe der Jahre mehr und mehr, bis man schließlich kaum noch, wenn überhaupt, echte Gefühle hatte. Und das war gut so, denn in der Politik ging es nicht um Gefühle.
Eindeutig wußte dieser Ryan nichts davon, sagte sich die Premierministerin der ›größten Demokratie der Welt‹. Und deshalb zeigte er, was er wirklich war; schlimmer noch für ihn, er tat es vor einem Drittel der höchsten politischen Führer der Welt, Leuten, die es sahen und daraus lernten und ihre Gedanken zur späteren Verwendung speicherten. Genau wie sie. Vorzüglich, dachte sie, hielt ihr Gesicht düster und traurig zu Ehren von jemandem, den sie gründlich verabscheut hatte. Als die Orgel das erste Lied einleitete, nahm sie das Gesangbuch, schlug die Seite auf und sang wie alle anderen mit.
Der Rabbi machte den Anfang. Jeder der Geistlichen hatte zehn Minuten, und jeder von ihnen war ein Experte – genauer, ein echter Gelehrter, über die Berufung als Mann Gottes, hinaus. Rabbi Benjamin Fleischman sprach aus dem Talmud und der Thora, von Pflicht und Ehre und Glauben, von einem barmherzigen Gott. Dann kam Reverend Frederick Ralston, Kaplan des Senats – der an jenem Abend verreist gewesen und so der stilleren Teilnahme an den Ereignissen des Tages entkommen war.
Als Baptist aus dem Süden und verehrter Experte für das Neue Testament, sprach Ralston vom Leidensweg Christi, von seinem Freund, Senator Richard Eastman aus Oregon, von allen geschätzt als ehrenvolles Kongreßmitglied, und leitete über zum Lob auf den gefallenen Präsidenten als hingebungsvollen Familienvater, wie alle wußten …
Es gab keinen ›richtigen‹ Weg, solche Dinge anzugehen, dachte Ryan.
Vielleicht wäre es leichter, wenn der Pfarrer/Priester/Rabbi Zeit hätte, mit den Leidtragenden zu reden, aber das war in diesem Fall nicht geschehen, und er fragte sich …
Nein, dies ist nicht richtig! sagte sich Jack. Dies war Theater. Und so sollte es nicht sein. Wenige Schritte entfernt, über den Gang hinweg, saßen Kinder, für die es überhaupt kein Theater war. Für sie war es viel einfacher. Es waren Mom und Dad, aus dem Leben gerissen durch eine sinnlose Tat, die ihnen eine Zukunft versagte, welche ihnen das Leben doch gewährleisten sollte: Liebe und Anleitung, eine Chance, auf normale Art zu normalen Menschen heranzuwachsen. Wichtig waren hier Mark und Amy, aber die Predigten dieser Andacht, die ihnen eigentlich helfen sollten, wurden statt dessen an andere gerichtet. Dies ganze Ereignis war eine politische Übung, um dem Land ein Gefühl von Sicherheit zu geben, um Leuten den Glauben an Gott und die Welt und das Land zu erneuern, und vielleicht brauchten das die auf der anderen Seite der dreiundzwanzig Kameras in der Kirche, aber es gab Leute, die größere Not litten, die Kinder von Roger und Anne Durling, die erwachsenen Söhne Dick Eastmans, die Witwe von David Kohn aus Rhode Island und die Familie von Marissa Henrik aus Texas. Das waren wirkliche Menschen, und ihr persönliches Leid wurde den Bedürfnissen des Landes untergeordnet. Nun, zum Teufel mit dem Land! dachte Jack, plötzlich wütend auf das, was hier vor sich ging, und auf sich selbst, weil er's nicht eher begriffen hatte, um die Dinge ändern zu können. Nun, das Land mochte Bedürfnisse haben, aber diese Nöte konnten nicht so groß sein, daß sie den Schrecken überdeckten, den das Schicksal den Kindern versetzt hatte. Wer sprach für sie? Wer sprach mit ihnen?
Am schlimmsten für Ryan: Der Katholik, Michael Kardinal O'Leary, Erzbischof von Washington, war auch nicht besser. »Gesegnet seien die Friedfertigen, denn sie …« Für Mark und Amy, wütete Jacks Geist, war ihr Vater kein Friedfertiger. Er war Dad, und Dad war tot, und das war nichts Abstraktes. Drei distinguierte, gelehrte, sehr aufrechte Mitglieder der Geistlichkeit predigten einer Nation, doch direkt vor ihnen waren die Kinder, die ein paar geheuchelt nette Worte bekamen, das war alles.
Jemand mußte mit ihnen sprechen, für sie, über ihre Eltern. Jemand mußte versuchen, es ihnen leichterzumachen. Das war zwar unmöglich, aber jemand mußte es versuchen, verdammt noch mal! Vielleicht war er Präsident der Vereinigten Staaten. Vielleicht hatte er eine Pflicht gegenüber den Millionen hinter den Fernsehkameras, doch er erinnerte sich an die Zeit, da seine Frau und seine Tochter im
Weitere Kostenlose Bücher