Befehl von oben
auch erkannt, daß für Ryan die Geschichte zu Ende war. Und so hatte er, als Freund, Jack eine goldene Brücke zurück ins Privatleben geboten, einen Schlußstein auf eine Karriere im Dienst der Öffentlichkeit, der sich in eine Falle verwandelt hatte.
Wenn er den Posten jemand anders angeboten hätte, wo wäre ich in Jener Nacht gewesen? fragte sich Jack. Die Antwort war einfach. Er hätte in der ersten Reihe im Plenarsaal gesessen und wäre jetzt tot. Roger hat mir das Leben gerettet. Vermutlich nicht nur sein eigenes. Cathy und vermutlich auch die Kinder wären auf der Besuchertribüne gewesen, zusammen mit Anne Durling … War das Leben denn so zerbrechlich, daß es von solchen Kleinigkeiten abhing? Überall in der Stadt lagen jetzt weitere Leichen in weiteren Särgen bei weiteren Beisetzungen, meist für Erwachsene, aber auch für ein paar Kinder anderer Opfer, die an jenem Abend entschieden hatten, ihre Familien zur Gemeinsamen Sitzung mitzunehmen.
Mark Durling wimmerte wieder. Seine ältere Schwester, Amy, zog seinen Kopf zu sich heran. Jack drehte den Kopf ein wenig, bis er die beiden im Blickfeld hatte. Sie sind doch noch Kinder, lieber Gott, warum müssen Kinder so was durchmachen? Der Gedanke setzte sich sofort fest. Jack biß sich auf die Lippe und sah zu Boden. Es gab niemanden, auf den seine Wut hätte zielen können. Der dieses Verbrechen begangen hatte, war selbst tot; die Leiche war im Leichenschauhaus von Washington, D.C. und einige tausend Meilen entfernt hatte die vom Mann hinterlassene Familie die Bürde, Schande und Schuld zu tragen. Deshalb bezeichneten Menschen jegliche Gewalt als sinnlos. Nichts ergaben solche Taten als nachhallendes Übel verlorener und zerstörter Leben. Wie Krebs oder andere schlimme Krankheiten schlug diese Art Gewalt ohne erkennbaren Plan zu, und Schutz davor gab es nicht – ein Mann hatte einfach beschlossen, nicht allein in das Jenseits zu gehen, an das er geglaubt haben mochte. Was zum Teufel sollte man daraus lernen? Ryan, der lange menschliches Verhalten studiert hatte, verzog die Miene und blickte weiter zu Boden, die Ohren konzentriert auf Töne, die ein zur Waise gewordenes Kind im dumpfen Widerhall einer steinernen Kirche von sich gab.
Er ist schwach. Es war ihm deutlich anzusehen. Dieser angebliche Mann, dieser Präsident, mußte kämpfen, Tränen zurückzudrängen. Wußte er nicht, der Tod ist Teil des Lebens? Hatte er nicht selbst getötet? Wußte er nicht, was Tod bedeutet? Mußte er das erst lernen? Die anderen nicht, das war zu sehen. Sie waren ernst, der Trauerfeier gemäß, doch alles Leben geht mal zu Ende. Ryan sollte es wissen. Er hatte Gefahren bestanden – doch das war lang her, erinnerte er sich, und Menschen vergessen mit der Zeit. Ryan hatte die Verletzlichkeit des Lebens als beschütztes Regierungsmitglied vergessen. Es amüsierte den Mann, wieviel man doch in wenigen Sekunden vom Gesicht eines Menschen ablesen konnte.
Das machte die Sache einfacher, nicht wahr?
Die Premierministerin Indiens saß fünf Reihen weiter hinten, aber am Gang, und obwohl sie Präsident Ryans Kopf nur von hinten sah, war auch sie eine Studentin des menschlichen Verhaltens. So durfte kein Staatsoberhaupt handeln. Ein Staatsoberhaupt war schließlich Akteur auf der bedeutendsten Bühne der Welt und hatte zu lernen, was man tat und wie man sich verhielt. Sie hatte an Beerdigungen verschiedenster Art teilgenommen, ihr ganzes Leben lang, denn politische Führer hatten Kollegen – nicht immer Freunde –, jung und alt, und man mußte ihnen Respekt erweisen durch sein Erscheinen, selbst gegenüber jenen, die man verabscheut hatte. Bei letzteren konnte es amüsant sein. In ihrem Land wurden ja die Toten oft verbrannt, und sie konnte sich vorstellen, daß der Körper noch lebte, als er verbrannte. Beim Gedanken zuckten ihre Augenbrauen vor privater Belustigung. Besonders bei denen, die du verabscheut hast. Es war eine so gute Übung, betrübt zu erscheinen. Ja, wir hatten Differenzen, doch er war stets jemand, den man respektierte, jemand, mit dem man arbeiten konnte, jemand, dessen Gedanken immer ernsthafte Aufmerksamkeit verdienten. Mit Übung wurde man über die Jahre so gut, daß die Hinterbliebenen die Lügen glaubten – zum Teil, weil sie sie glauben wollten. Man lernte, genau so zu lächeln und Gram genau so zu zeigen und genau so zu sprechen. Man mußte es. Ein politischer Führer konnte sich kaum erlauben, echte Gefühle zu zeigen.
Echte Gefühle
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