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Beginenfeuer

Beginenfeuer

Titel: Beginenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Christen
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und darin zu lesen.
    Glücklicherweise hatte Berthe trotz ihres müßigen Lebens einen beneidenswerten Schlaf. Nicht zuletzt auch, weil sie mit Josepha des Abends immer reichlich Wein zu sich nahm. Wie immer roch es im Haus nach feuchten Kleidern, kaltem Holzrauch und Alkohol. Ysée war daran gewöhnt, so wie an den alles durchdringenden Gestank des Wollfetts, der aus den Lagerschuppen bis in ihre Stube drang und dermaßen zu ihrem Leben gehörte, dass er ihr in den ersten Tagen im Hospital sogar gefehlt hatte.
    Vorsichtig setzte sie die Sohlen auf den Boden. Direkt vor ihrem Bett befand sich eine kleine Binsenmatte, die sie selbst geflochten hatte, eine größere lag vor dem Alkoven. Trotz dieser Unterlage fühlte sie die Kälte aus dem festgestampften Lehmboden aufsteigen. Eine dünne Schicht Stroh schützte nur mangelhaft davor, und rund um die Feuerstelle, wo die letzte Glut Wärme und rötliches Schimmern verbreitete, gab es ohnehin nur blanken Lehm, da immer Funken aus dem Kamin stoben. Ysée ließ sich dennoch dort auf einem Hocker nieder, um die schwache Lichtquelle auszunützen. Zusätzlich entzündete sie die kleine Öllampe, die sie sonst verwendete, wenn sie bis tief in die Nacht hinein Wolle spann.
    Erst jetzt wischte sie sich die Finger am Nachtgewand ab und schlug vorsichtig den Stoff zur Seite, ohne das Buch zu berühren. Es war schlicht zwischen zwei dünne Lederplatten gebunden, kaum höher als ihre flache Hand. Die Seiten bestanden aus einfachstem Pergament, sie wiesen Flecken und gekerbte Ränder auf. In Ysées Augen war es trotzdem ein Schatz, dessen Besitz sie jedes Mal schon durch seinen bloßen Anblick entzückte.
    Es kümmerte sie nicht, dass sie vieles verwirrte. Da gab es Sätze, die sie wieder und wieder lesen musste, um sie zu verstehen, und manches blieb ihr trotz allem ein Rätsel. Dennoch folgte sie mit der Fingerspitze den Worten und mühte sich, die Gedanken zu begreifen, die ihr eine Frau ans Herz legte, die davon überzeugt war, dass Liebe kein Hirngespinst, sondern ein erstrebenswertes Ziel sein sollte.
    Diese Seele, spricht die Liebe, ist eingetreten in die Fülle und das Übermaß der göttlichen Liebe, und zwar nicht, spricht die Liebe, durch die Erlangung der Gotteswissenschaft. Denn es kann nicht sein, dass irgendein Begriffsvermögen, und wäre es noch so erleuchtet, etwas vom Überströmen der göttlichen Liebe zu erfassen vermöchte.
    Ysée schaute in die Glut des fast erloschenen Feuers. Wieso wollte Pater Simon nicht, dass Frauen solche Dinge erfuhren? Was war schlecht daran, von der reinen, göttlichen Liebe nicht nur zu sprechen, sondern auch zu lesen? Die Magistra hatte ihr erzählt, dass viele Ordensschwestern der Kirche ebenfalls die Kunst des Lesens und Schreibens beherrschten, ja, dass es Äbtissinnen gab, deren Klugheit sogar von Kirchenfürsten gerühmt wurde. Von Kirchenfürsten, aber nicht von Pater Simon.
    Die Bestürzung über die unverständlichen Ansichten des Paters nagte beharrlich an Ysée. Sie hätte alles darum gegeben, sein Wohlwollen zu erlangen. Sie verspürte immer mehr den Wunsch, ihre Wissbegier von ihm verstanden zu wissen. Sogar in der Stille der Nacht dachte sie darüber nach, wie sie es erreichen konnte, seine Anerkennung zu finden. Was er wohl zu Marguerite Porètes Vorstellungen sagen würde? Fand er sie auch fehlgeleitet und für Frauen verwerflich?
    Sie sehnte sich inständig danach, ein freundliches Wort oder gar ein Lächeln von ihm zu erringen. Sie verlor sich in Träumen, in deren Mittelpunkt Pater Simon stand, und schrak auf, als das Krähen eines Hahnes den Morgen verkündete. Wo war die Zeit geblieben?
    Hastig schlug sie das Buch in seine Leinenschichten. Sie fröstelte in ihrem klammen Hemd, obwohl es sie vom Hals bis zu den Zehenspitzen umhüllte. Das Feuer war ebenso wie die Lampe erloschen, und der neue Tag dämmerte grau über den Mauern des Beginenhofes herauf. Zwischen Traum und Wirklichkeit klafften Abgründe.
    Bis sie im Kreise der anderen Beginen zur Morgenandacht niederkniete, war sie bereits in Zweifel, ob die göttliche Liebe, die Marguerite Porète so anrührend beschrieb, die wirkliche Liebe war. Ihr war kalt, und ihr Magen rumorte vor Hunger. Berthe hatte die ganze Portion Gerstenbrei verschlungen, die Ysée wie jeden Morgen für sie beide zubereitet hatte. Anschließend hatte sie über das erloschene Kaminfeuer lamentiert und Ysée beschuldigt, mit dieser Nachlässigkeit Krankheit, wenn nicht gar ihren baldigen

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