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Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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was in ihr steckte, am schwersten zu bekämpfen war. All ihr akademisches Wissen und ihre Jahre der Erfahrung mit den Kranken würden ihr nichts nützen. Was würde sie jetzt tun, da ihr kein Ausweg mehr blieb?
    Cyrilles finstere Gedanken drehten sich ständig im Kreis. Schließlich hob sie den Kopf, und ihr wurde klar, dass die Entmutigung sie daran hinderte, sich die einzige wichtige Frage zu stellen. Was hat Sanouk Arom zwischen neun und zehn Uhr veranlasst, zu fliehen? Noch immer auf dem Toilettendeckel hockend, begann Cyrille nachzudenken.
    Man konnte viel über die Chefs in Erfahrung bringen, wenn man ihre Sekretärinnen beobachtete. Sanouk Arom hatte eine junge, ergebene Frau gewählt, die ohne weitere Diskussionen seinen Anordnungen folgte. Sie schloss daraus, dass er autoritär sein musste und dass Autorität bei dieser jungen Frau der Modus war, der bestens funktionierte. Übrigens war Cyrille Expertin bei der Deutung von Blick, Körperhaltung und Tonfall. Sie hatte in Kims Augen Bewunderung für die Kollegin ihres Vorgesetzten gelesen, die, teuer gekleidet, geradewegs aus der Traumstadt Paris kam. Sie hätte wetten können, dass sie nicht wagen würde, Cyrilles Wort infrage zu stellen oder sie ihr Gesicht verlieren zu lassen, was in diesem Land die schlimmste Demütigung bedeutete. Sie stand auf und nahm ihr Handy aus der Tasche. Sie hatte nichts mehr zu verlieren und konnte deshalb ruhig alles auf eine Karte setzen. Sie atmete siebenmal tief durch, ließ ihre Schultern kreisen und schloss die Lider. Als sie die Augen wieder aufschlug, war sie entschlossen, zum Angriff überzugehen.
    Die Sekretärin von Professor Arom sah die hübsche, gut gekleidete Frau Dr.   Blake, ein Lächeln auf den Lippen, ihr Handy in der Hand, zurückkommen.
    »Entschuldigen Sie, Kim, ich habe soeben eine E-Mail von Professor Arom erhalten. Er bietet mir an, sein Büro zu benutzen, um meinen Vortrag für die Konferenz vorzubereiten. Könnten Sie mir bitte seinen Computer einschalten und das Passwort eingeben?«
    Sie hatte das ohne Unterbrechung und mit der ruhigen, aber bestimmten Autorität gesagt, derer sie sich bei ihren Patienten bediente. Die Sekretärin richtete einen fragenden Blick auf sie. Cyrille ließ sie drei Sekunden schmoren und machte schon einen Schritt auf das Büro des Chefs zu. Und, wie sie es erwartet hatte, wagte Kim nicht, ihr zu widersprechen. Sie erhob sich und führte sie ins Arbeitszimmer des Professors, dessen große Fensterfront auf den Fluss Chao Phraya führte.
    Eine Wand war mit gerahmten Diplomen, wissenschaftlichen Auszeichnungen und Glückwunschbriefen bestückt. In einem Schaukasten wurden Fachbücher, Zeitungsausschnitte und Medaillen präsentiert, daneben standen Dutzende von Familienfotos. In einem Wandregal waren Ordner aufgereiht. Cyrille bestaunte die Trophäen, was der Sekretärin sicher gefiel. Bewunderung funktionierte überall auf der Welt und ohne Ausnahme. Aroms Schreibtisch stand vor dem Fenster. Neben dem hochmodernen Computer waren säuberlich Akten aufgereiht. Nirgendwo ein Staubkorn. Der Mann war ein Pedant. Die Sekretärin schaltete den PC ein und setzte sich davor. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, reckte Cyrille sich, um einen Artikel aus dem Thaï News Daily vom 2.   Januar 2008 zu lesen, der zwischen zwei Buddhastatuen in einem Rahmen ausgestellt war.
     
    Die ONG Volunteer Group of Child Development VGCD hat den jährlich vergebenen Preis der UNESCO erhalten.
     
    Etwas regte sich in Cyrilles Gedächtnis. Arom unterstützte die Hilfsorganisation VGCD bei der Behandlung von Straßenkindern. Und dort entwickelte er seine neue Behandlungsmethode, deretwegen sie hier war. Ihr Herz schlug schneller. Sie lächelte, sie fühlte sich näher am Ziel als je zuvor. Sie hatte recht gehabt, hierherzukommen.
    Aroms Sekretärin bot Cyrille mit einer angedeuteten Verbeugung den Chefsessel an. Ganz offensichtlich entspannt, nahm Cyrille Platz, zog ihre wissenschaftlichen Artikel und ihre CD-ROM aus der Tasche, als handelte es sich um eine Arbeitssitzung. Dankend nahm sie den angebotenen Tee an. Damit würde sie noch etwas Zeit gewinnen. Kim verließ den Raum. Cyrille war sich nicht sicher, ob die Assistentin nicht in zwanzig Minuten, wenn die betäubende Wirkung der Autorität nachgelassen hätte, ihren Vorgesetzten anrufen und ihm mitteilen würde, dass die französische Frau Doktor Besitz von seinem Büro ergriffen hätte. Sie warf einen Blick auf den Aktenstapel zu ihrer

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