Begraben
Notlüge und lobte die Vorzüge des Hilton. Danach unterhielten sie sich über das Wetter, über den morgendlichen Regen, über die erdrückende Hitze, die Verkehrslage, die Luftverschmutzung. Nachdem der Small Talk beendet war, herrschte Schweigen. Cyrille lächelte, wusste nicht, was sie noch sagen sollte.
»Ist der Professor zu sprechen?«, fragte sie, mit einem Blick zu der angelehnten Verbindungstür zum Nachbarbüro.
Die Sekretärin lächelte weiter.
»Nein, tut mir leid, der Professor hat uns soeben verlassen. Er musste sich wegen einer dringenden Familienangelegenheit nach Hause begeben und bittet Sie, ihn zu entschuldigen. Er wird Sie während des Kongresses treffen.«
Cyrilles Magen krampfte sich zusammen, und sie hatte größte Mühe, gelassen zu bleiben.
»Ich verstehe, aber wir hatten einen Termin. Ich habe Sie vor nicht einmal einer Stunde angerufen …«
»Natürlich, ich weiß, aber er musste nach Hause, es tut ihm sehr leid.«
Cyrille spürte, wie Wut in ihr aufstieg.
»Kann ich ihn denn heute Nachmittag oder morgen vor Eröffnung des Kongresses sprechen?«
»Und warum wollen Sie sich nicht während des Kongresses mit ihm treffen?«, erwiderte die Assistentin in gleichbleibend ruhigem Ton.
Cyrille musste sich zusammenreißen, um nicht zu explodieren oder eine Szene zu machen. Die wollen mich wohl zum Narren halten!
»Sie müssen wissen, dass ich die Reise wegen dieses Termins früher als geplant angetreten habe.«
»Es tut ihm wirklich leid, Doktor Blake.«
Das Gespräch artete zu einem Wettbewerb des Lächelns aus. Cyrille hatte Zweifel, bei diesem Spiel zu gewinnen. Kim war sehr viel besser trainiert.
»Wäre es möglich, mit ihm zu telefonieren?«, fragte Cyrille, der kein diplomatisches Argument mehr einfiel.
Kims Lächeln wurde noch breiter.
»Leider nicht! Er hat darauf bestanden, unter keinen Umständen gestört zu werden. Und, wissen Sie, der Professor telefoniert nicht mehr, weil es wegen seiner Hörprobleme einfach zu anstrengend ist. Wir kommunizieren vor allem schriftlich.«
Cyrille nagte an ihrer Lippe. Ja, man hält mich zum Narren. Ihre Nasenflügel blähten sich. Sie holte tief Luft.
»Hat er etwas für mich hinterlassen?«
Jetzt schien Kim zum ersten Mal wirklich verlegen.
»Nein, ich glaube nicht.«
Cyrille ließ die Schultern hängen. Gut.
»Wo sind bitte die Toiletten?«
Die Sekretärin wies ihr den Weg zu dem geräumigen, marmorgetäfelten Waschraum, drei Türen vom Büro ihres Vorgesetzten entfernt. Cyrille dankte ihr widerwillig und eilte mit zusammengebissenen Zähnen zu den Toiletten, ihrem letzten Zufluchtsort. Sie schloss sich in einer der Kabinen ein, setzte sich auf den Toilettendeckel und stützte den Kopf in die Hände.
Seit dem Tag, als Julien Daumas in ihrem Zentrum aufgetaucht war, schien sich alles gegen sie verschworen zu haben. Was hatte sie verbrochen, dass sich das Schicksal gegen sie wandte? Ihre letzte Chance auf Rettung hatte sich soeben in Luft aufgelöst. Jetzt konnte sie nur noch nach Hause zurückkehren und sich in der Rothschild-Klinik in Gomberts Hände begeben. Eine unkontrollierbare Verzweiflung, ja, fast schon Panik, überkam sie. Sie hätte weinen, schreien, ihre Eltern um Hilfe rufen mögen. Alles, was sie unternommen hatte, um sich allein zu helfen, ohne ihre Karriere, ihren Ruf und die Klinik zu gefährden, war gescheitert. Das Gebäude, das sie mit solcher Leidenschaft, solchem Eifer errichtet hatte, würde zusammenbrechen wie ein Kartenhaus.
Von ihr und ihrer Arbeit würde nichts übrig bleiben als das Bild einer geistesgestörten Frau, die vielleicht ein armes Tier gefoltert hatte, ohne sich daran zu erinnern. Im Centre Dulac würden sich die Ärzte um ihre Stelle streiten. Zu Mercier, der die Leitung übernehmen könnte und ihre Entscheidungen respektieren würde, hatte sie Vertrauen. Aber zu Entmann … und Panis? Was würden sie aus ihrem Projekt machen? Und sie selbst? Würde sie in einem Sanatorium landen, wo niemand sie besuchen würde außer Benoît, der nur allzu froh wäre, sie wieder unter seine Fittiche zu nehmen? Sie hatte kein Kind und nur wenige Freunde. Sie war eine Alzheimer-Kranke, die keine war. Mein ganzes Leben lang, seit ich Psychiaterin bin, fürchte ich mich vor der Gewalt, vor dem Wahnsinn eines Patienten, der mich körperlich bedrohen könnte, vor einem Kunstfehler, der meine Karriere ruinieren würde. Doch das Schlimmste, was mir widerfahren konnte, bin ich selbst. Cyrille wusste, dass das,
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