Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Begraben

Begraben

Titel: Begraben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
Vom Netzwerk:
aufgehoben fühlte. Mit dem Finger folgte sie der Linie des EEG. Sie hätte mit Benoît nach Hause fahren sollen. Sie hätten sich geliebt und der Stress, der sich den Tag über in ihr aufgestaut hatte, wäre von ihr abgefallen.
    Sie schob den USB-Stick in die Zentraleinheit des Computers und öffnete die Dateien. Sie überflog den Text und runzelte die Stirn. Dann kehrte sie zum Anfang des Dokuments zurück und konzentrierte sich auf die Lektüre. Sie begann die Ausführungen ihres Mannes zu korrigieren, ihre Finger glitten über die Tastatur. Sie schnalzte mit der Zunge und markierte einen ganzen Absatz gelb. Na, er macht also doch Fortschritte, wenn auch nur langsam. Benoît hatte noch immer Schreibprobleme, die seit einem Unfall vor elf Jahren andauerten. Sie war die Einzige, die die wissenschaftlichen Arbeiten des Großen Mannes Korrektur las. Und das aus gutem Grund, denn außer dem Neurologen wusste nur sie Bescheid. Nach einem Zusammenstoß mit einem Wagen, dessen aggressiver Fahrer ein Stoppschild übersehen hatte, hatte sich Blakes Auto auf einer regennassen Landstraße überschlagen. Wie durch ein Wunder hatte Benoît keinen körperlichen Schaden davongetragen. Als daraufhin ein befreundeter Neurologe seine kognitiven Fähigkeiten getestet hatte, war das Resultat völlig normal gewesen – seine Schreibfähigkeit ausgenommen. Er litt unter einer besonderen Störung, zurückzuführen auf die Läsion eines Temporallappens, der für die symmetrische Wahrnehmung zuständig ist. Er schrieb von rechts nach links. Nach jahrelangem intensivem Training war der schriftliche Ausdruck endlich wieder halbwegs normal. Doch seine Texte konnten nie ohne vorherige Korrektur veröffentlicht werden, um die zahlreichen Fehler, die sich unweigerlich einschlichen, auszumerzen.
    Schlimmer und problematischer jedoch war die Tatsache, dass manchmal auch seine Gedankengänge etwas unstrukturiert waren. Cyrille schrieb einen Absatz um. Sie streckte sich, denn sie war plötzlich hundemüde, gähnte und wiederholte Benoîts Worte: Kein Grund zur Sorge, wenn dir dieser Patient zu schwierig erscheint, überweis ihn weiter. Er hatte sicher recht. Morgen würde sie sich entscheiden. Sie schloss die Augen und döste ein.
    Plötzlich durchzuckte sie eine Art elektrischer Schlag, und ihre Nackenhaare richteten sich auf. Ein Schrei.
    »CYRILLE!«
    Jemand rief ihren Namen. Sie sprang mit klopfendem Herzen auf. Verdammt! Die Schreie kamen aus Zimmer 2, sie hörte sie über das Mikrofon der Überwachungskamera, aber auch durch die Wand. Es war 5   Uhr   43. Auf dem Bildschirm sah sie, wie Julien Daumas um sich schlug. Aber mit wem kämpfte er? Er war ganz allein. Sie sprang hoch und lief auf den Gang hinaus. »CYRILLE!« Sein Gebrüll zerriss ihr fast das Trommelfell, und ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Sie stieß die Tür auf. Der Patient saß mit schweißglänzendem Oberkörper auf dem Bett und hatte die Hände an den Kopf gepresst.
    »Alles ist gut, Monsieur Daumas, ich bin da.«
    Sie trat an sein Bett.
    »Ich bin da, Julien.«
    Der junge Mann zog sie plötzlich an sich und presste den Kopf an ihren Bauch. Cyrille erstarrte. Er hob die tränennassen Augen zu ihr, sein Blick war abwesend, und er wiederholte: »Sie haben dich nicht erwischt, sie haben dich nicht erwischt, meine Liebste.«
    Cyrille fasste ihn sanft bei den Handgelenken, und als sich sein Griff nicht lockerte, schob sie ihn energisch zurück.
    »Monsieur Daumas, ich bin es, Doktor Blake. Sie hatten einen Albtraum. Sie müssen ihn sofort so detailliert wie möglich aufschreiben.«
    Julien sah sie verzweifelt an. »Meine Liebste«, murmelte er. Dann erstarben die Worte auf seinen Lippen, so als würde ihm plötzlich bewusst, wo er sich befand.
    »Tut mir leid. Ich dachte … die andere wäre zurückgekommen.«
    »Wer?«
    Julien schüttelte den Kopf.
    »Die andere … dein anderes Ich …«
    Cyrille runzelte die Stirn.
    »Nehmen Sie einen Block und einen Stift und notieren Sie alle Einzelheiten Ihres Albtraums. Dann können wir gleich morgen daran arbeiten.«
    »Wie spät ist es?«
    »Sechs Uhr früh. In einer Stunde wird Ihnen das Frühstück serviert. Ruhen Sie sich bis dahin aus.«
    Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er wirklich zu schreiben begann, schloss Cyrille leise die Tür.
    Am ganzen Körper zitternd, lehnte sie sich an die Wand, und eine unkontrollierbare Angst erfasste sie. Julien Daumas beschwor eine parallele Realität herauf, die nicht mit der ihren

Weitere Kostenlose Bücher