Begraben
übereinstimmte. »Dein anderes Ich« – was hatte das zu bedeuten? Sie legte die Hand an ihre glühende Stirn. Der Patient hatte sie nicht angegriffen, aber die Sache hätte übel ausgehen können. Unfähig, einen Schritt zu tun, stand sie da und atmete tief durch. Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie musste unbedingt ein wenig schlafen.
Aus der Küche drang Geschirrgeklapper. Die Schwesternhelferin, heute war es vermutlich Clothilde, machte das Frühstück. Cyrille ging zu ihr. Die kleine, etwa fünfzigjährige Frau im blauen Kittel beugte sich, einen Schwamm in der Hand, über die Spüle. Sie hörte nicht, wie ihre Chefin hereinkam.
»Guten Morgen, Clothilde«, sagte Cyrille leise, um sie nicht zu erschrecken.
Clothilde zuckte trotzdem zusammen.
»Ach, Doktor Blake, Sie haben mir einen Schrecken eingejagt!«
»Kann ich Sie eine Stunde allein lassen? Ich muss mich unbedingt ausruhen. Doktor Mercier kommt um sieben.«
»Kein Problem, Madame. Gehen Sie schlafen, Sie haben diese Woche viel gearbeitet.«
»Tausend Dank. Der Patient von Zimmer zwei ist etwas durcheinander. Achten Sie nicht weiter darauf, falls er wirres Zeug redet.«
»Oh«, meinte Clothilde und schüttelte den Kopf, »Sie versuchen immer, alle glücklich zu machen, aber wer kümmert sich um Sie? Soll ich Ihnen einen guten Kaffee kochen? Sie sehen erschöpft aus.«
»Vielen Dank, aber ich glaube, ich fahre besser nach Hause und ruhe mich aus. Ich bin gegen vierzehn Uhr zurück. Bis später.«
Cyrille zog ihren Kittel aus und warf ihn in den Korb für die Wäscherei, schlüpfte in ihren Trenchcoat und wickelte einen dicken Schal um den Hals. Sie zitterte am ganzen Körper. Sie verließ die Klinik und stieg in ihren Mini Cooper, der vor der Tür geparkt war. Als sie den Zündschlüssel umdrehte, hatte der Himmel einen malvenfarbenen Ton angenommen. Cyrille beugte sich über das Lenkrad und betrachtete die dahinziehenden Wolken. Sie spürte noch Julien Daumas’ Arm um ihre Taille, seinen Geruch und seine Verzweiflung.
Von Anfang an war ihr etwas entgangen, aber was?
6
7. Oktober, morgens
»Ich bin ganz allein auf einer verlassenen Straße, es ist sehr finster, und mir ist kalt. Ich will weg, aber ich kann nicht. Ich gehe weiter, eine dunkle Gestalt taucht auf. Ich drehe mich zur anderen Seite, aber wieder ist der Mann da, er kommt auf mich zu. Ich kann seine Augen nicht sehen. Er hält ein Messer in der Hand. Ein Austernmesser. Er holt aus, ich bin wie gelähmt, er sticht auf mich ein. Und plötzlich ist Cyrille da. Sie hat langes schwarzes Haar, aber ich weiß, dass sie es ist. Das Phantom stürzt sich auf sie. Ich bin verletzt. Er versetzt ihr mehrere Stiche. Sie bricht zusammen. Sie blutet …«
An dieser Stelle hatte Julien die Aufzeichnung abgebrochen. Das mit einer feinen, engen Schrift beschriebene Blatt lag zerknittert auf dem aufgeschlagenen Bett des Schlaflabors. Nur mit seiner Pyjamahose bekleidet, setzte er sich in den Sessel am Fenster, legte die Füße auf die Fensterbank und trank eine Tasse heiße Schokolade. Sein ausdrucksloser Blick war in den kleinen Innenhof gerichtet. Sein Puls schlug ruhig, seine unbehaarte Brust hob und senkte sich gleichmäßig, sein Atemrhythmus hatte sich normalisiert. Der süße Geschmack des Kakaos war wohltuender als alle Arzneien der Welt. Die Krise war vorbei. Es war an der Zeit, diese Albträume, diese Bilder, die seine Nächte zur Qual machten, loszuwerden. Er würde mit Doktor Blake arbeiten, um die Dämonen zu besiegen … Sie hatte es ihm versprochen.
Cyrille.
Alles, was er je geliebt hatte, hatte er verloren. Seine Mutter, die Großeltern und dann schließlich Cyrille. Er musste sie beschützen, wenn nötig auch gegen ihren Willen. Seine Träume sagten ihm, dass sie sich in großer Gefahr befand.
Der Bambusstrauch wiegte sich anmutig im Wind, die kleinen grünen Blätter bebten in der frischen Luft. Am Boden suchten Vögel nach Samenkörnern. Im Geist fotografierte Julien die morgendlichen Farben. Er genoss die sanften Töne, den Kontrast zwischen den fuchsienfarbenen Hibiskusblüten und den weißen Rosen, die gezackte Form der dunkelroten Blätter des japanischen Ahorns. Er öffnete das Fenster und streute einige Krümel seines Croissants auf den Sims. Dann trank er seine Schokolade und wartete geduldig. Er spürte die Kälte nicht. Ein neugieriger Sperling pickte die Brösel auf. Julien war fasziniert von dem Vogel, von seinen ruckartigen Kopfbewegungen, dem flaumig weichen
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