Begraben
Cyrille lachte und weinte zugleich. Sie wischte sich die Augen ab. Dann schwiegen sie. Die Worte überschlugen sich in Cyrilles Kopf, doch sie brachte sie nicht heraus. Julien fasste sich als Erster.
»Wir müssen fliehen, sie werden uns sicher bald suchen.«
Cyrilles Blick verfinsterte sich.
»Das geht nicht …«
Plötzlich hörte es auf zu regnen.
»Warum nicht?«
»Rama Supachai, der Forscher, der hier arbeitet, testet seine Behandlungsmethoden an Kindern. Ich muss wissen, was er genau macht.«
Julien senkte die Augen.
»Das ist es also …«
»Das ist was?«
»Auf der Suche nach einem Fluchtweg habe ich die Umgebung erforscht. Ich bin einer Kindergruppe gefolgt, die schweigend zu einer Art Dorf in einer Bucht gegangen ist. Und …«
»Und?«
»Sie … Wie soll ich das beschreiben? Wie Roboter haben sie die Hütten verlassen, still und ohne Lärm zu machen. Wie Zombies, verstehst du? Lass uns von hier verschwinden und die Polizei verständigen!«
»Nein, ich muss wissen, was er mit ihnen macht … ich muss es wissen.«
»Warum?«
Cyrille senkte den Blick und suchte nach Worten.
»Vor … vor zehn Jahren war ich sein Studienobjekt, und er hat ein ähnliches Experiment an mir vorgenommen wie jetzt an den Kindern. Eine Behandlung, durch die ich einen ganzen Teil meines Lebens vergessen habe, unter anderem dich …«
Sie atmete tief durch, um ihre Tränen niederzukämpfen.
Julien strich ihr über die Wange.
»Du darfst keine Schuldgefühle haben.«
Er liebte die sanfte Rundung ihres Gesichts, ihren Haaransatz …
Cyrille senkte den Kopf und biss sich auf die Lippe.
»Ich muss wissen, was er mit mir gemacht hat, sonst kann ich mich nie davon befreien.«
Julien nickte.
»Gut, wir sehen nach, was dieser Irre da treibt, und dann verschwinden wir.«
Plötzlich schien er zu zögern.
»Weißt du … vorhin hatte ich wieder einen Anfall. Ich wollte mich schneiden, aber dann habe ich das gemacht, was du gesagt hast. Und ich habe meine Aggression ableiten können und habe gewonnen. Zumindest dieses Mal. Zum ersten Mal seit Jahren.«
Cyrille drückte fest seine Hand.
»Wir schaffen es … wir schaffen es.«
47
Rama Supachais Haus, ein imposanter Pfahlbau aus Bambus, erhob sich auf den schwarzen Klippen der südlichen Insel. Direkt unterhalb des Gewächshauses erstreckte sich der Strand. Im rötlichen Licht des Abendhimmels liefen Julien und Cyrille an den Pfählen entlang. Ihre Gesichter waren feucht von der Gischt, und das Heulen des Windes übertönte das Geräusch ihrer Schritte. Sobald sie das Gewächshaus hinter sich gelassen hatten, kletterten sie die Felsen hinauf.
Oben angekommen, entdeckten sie eine langgestreckte Halle aus Rigipsplatten mit zwei Dachfenstern, die vom Strand aus nicht zu sehen war und so gar nicht zur Schönheit des Pfahlhauses passte. Cyrille betrachtete aufmerksam das Gebäude. Es war nicht sehr alt, hatte aber unter den Wettereinflüssen gelitten. An der Meerseite befand sich ein Loch in der Fassade, das noch nicht repariert worden war, sodass man die innere Wandverkleidung erkennen konnte. Eine Art Kupfernetz.
Cyrille kniff die Augen zusammen und trat vor, um sich zu vergewissern. Julien folgte ihr schweigend. Ja, die Innenverkleidung war aus Metall, und die Dachfenster waren aus getöntem Glas. Irgendwo sprang ein Stromaggregat an, und über der Halle stieg eine weißliche Rauchwolke in den Himmel.
Cyrille begriff, dass sie einen Faradayschen Käfig vor sich hatte.
Die Konstruktion schirmte das Innere gegen elektrische und magnetische Felder ab, und auch gegen Radiofrequenzen. Und was tat ein Forscher der Neurowissenschaften in einem Faradayschen Käfig?
»Ich wette, dass sich da drin ein Kernspintomograf befindet«, flüsterte sie Julien zu.
Neugierig schlich sie noch näher heran und umrundete die Halle. Sie legte die Hand an die Wand und spürte die Vibrationen. Die Maschine im Inneren war in Betrieb.
Sie sah sich aufmerksam um und entdeckte eine verrostete Metallleiter, die am Ende der Halle angebracht war. Cyrille sagte sich, dass sie vermutlich zu einer Wartungsklappe führte, die für die regelmäßigen Kontrollen solcher Geräte notwendig war. Sie machte Julien ein Zeichen, umfasste mit beiden Händen die rostigen Sprossen und kletterte, das Haar im Winde flatternd, auf das Dach. Julien folgte ihr.
Sie hatte sich nicht getäuscht, es gab tatsächlich eine Wartungsluke, die jedoch alt und mit zwei verrosteten Schrauben verschlossen war.
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