Begrabene Hunde schlafen nicht
…« Er umarmte mich hastig. »Geht es dir gut?«
»Jaja.«
»Karin auch?«
»Jaja.«
»Ich muß dich mit …«
Durch den winzigen Flur kamen wir direkt in den Hauptraum
der Wohnung, am Tage Wohnzimmer, nachts Schlafzimmer.
Ein großes Sofa dominierte das Zimmer so sehr, daß das dünne
Mädchen mit dem glatten Haar fast darin verschwand. Das Sofa
war eines, das man ausziehen und in ein Doppelbett verwandeln
konnte, wenn man den Couchtisch hochkant an die eine Wand
stellte und die beiden Sessel an der anderen aufeinanderstapelte.
Sie trug ein graues T-Shirt und blaue Jeans.
»Mein Vater ist zu Besuch gekommen!« sagte Thomas, als sei
ich Moses, der vom Berge herabgestiegen war, um ihnen mit
den Steintafeln auf den Kopf zu hauen.
Ein schüchternes Lächeln brachte Bewegung in das runde, fast
kindliche Gesicht. »Hei. Ich heiße Mari.« Sie streckte vorsichtig
die Hand aus, als fürchte sie, ich würde sie mit dem Polizeigriff
auf den Rücken drehen.
»Varg«, sagte ich und ergriff die Hand sanft.
Ich sah mich um. Es sah aus wie in den meisten Studentenbuden: Plakate an den Wänden, die meisten von Rockbands, deren
Namen ich kaum zusammenstottern konnte, Stapel von Büchern,
ein tragbares Kassettenradio, das im Moment auf der Fensterbank stand, wo es die einzige Pflanze des Zimmers, einen
verstaubten Weihnachtskaktus, in die Ecke gedrängt hatte.
Hinter den Möbeln standen Plastiktüten mit unbekanntem Inhalt,
und Kleidungsstücke hingen in Schichten übereinander an der
Wand.
Ich blickte zu Thomas, der, lang wie er war, mitten im Raum
stand. »Ich weiß nicht, ob ich dafür in der richtigen Form bin im
Moment.«
»Äh, wozu?«
»Oslo-Marathon.«
Er lachte. »Ach? Trainierst du denn nicht mehr regelmäßig?«
»Doch, doch. Aber es ist ein paar Jahre her, daß ich mich an der Strecke versucht habe.«
»Tja, und warum bist du dann hier?«
»Ich bin ganz einfach dienstlich hier. Und nun sieht es so aus,
als müßte ich noch ein paar Tage bleiben.«
Er sah schnell zur Seite. Dann grub er seinen Blick tief in mein
Gesicht, direkt neben der Nase. »Ja, ich habe Mari erzählt, daß
du für eine Versicherung arbeitest.«
Ich lächelte pflichtschuldig.
Sie sagte höflich: »Für welche denn?«
Thomas öffnete den Mund.
»Nemesis«, sagte ich.
»Ach ja, die.«
»Es ist eine ziemlich kleine, in Bergen«, sagte Thomas schnell.
»Aber im Himmel um so größer«, fügte ich hinzu.
Thomas lachte angestrengt.
»Eine Art Mini-Allianz.«
Mari lächelte. Sie sah im Raum herum, als suchte sie nach
einem freien Platz. »Willst du – dich nicht setzen?«
»Doch, danke.«
»Hast du schon gegessen?« fragte Thomas. »Willst du eine
Tasse Tee, oder …« Er sah sie fragend an. »… Kaffee?« (Haben
wir Kaffee? sah ich ihn stumm in Klammern fragen.)
»Danke, ich nehme gern einen Tee.«
»Ja, dann werd’ ich – du möchtest sicher mit deinem Vater
reden, Thomas.«
Sie zwängte sich in die winzige Küche. Klein und dünn wie sie
war, ging es gut.
Ich legte ein paar Hemden und dicke Socken zur Seite und
setzte mich in einen der beiden Sessel.
Thomas nahm auf dem Sofa Platz, mit geradem Rücken wie
ein Konfirmand, der beim Abfragen Haltung annimmt.
Dann ging es seinen gewohnten Gang. Wir schlichen wie
Katzen um den heißen Brei unseres Lebens und drückten uns so
schnell an den Wänden entlang, daß wir einander kaum bemerkten.
Am nächsten kamen wir seiner Mutter, als er auf seinen Stiefvater zu sprechen kam. »Du weißt, daß es Lasse schlechtgeht?«
»Nein.«
Er klopfte sich mit der Hand auf die linke Brust. »Die Pumpe.
Defekt. Er ist schon vier Monate krank geschrieben, und es ist
nicht sicher, ob er jemals wieder wird arbeiten können.«
»Das tut mir leid.« Wieder ein Pädagoge, der ins Vorzimmer
am Ende des Flurs eingetreten war, wo er dasaß, die Wand
anstarrte und darauf wartete, ins neue Jerusalem gerufen zu
werden, wenn die allerletzte Schulglocke einmal ertönte.
»Ja. Traurig für – alle. Ja, du verstehst sicher.«
Ich verstand. Nach einer Pause begann ich an einer anderen
Stelle: »Wie läuft’s mit dem Studium?«
Es war, als hätte ich auf einen Knopf gedrückt. Die nächsten
zehn Minuten bekam ich eine Vorlesung über das Karnevalsmotiv in der neueren mitteleuropäischen Romanliteratur zu hören,
um die ich nie gebeten hatte und die auch nur zu einem Bruchteil zu verstehen ich kaum die Voraussetzungen hatte.
Aber er redete mit mir! Er redete.
Mari kam zurück, in der Hand eine
Weitere Kostenlose Bücher