Behemoth - Im Labyrinth der Macht
vorn hatte die Form eines Drachenkopfes und die Ladearme waren auf dem Rücken zusammengefaltet wie schwarze Metallflügel. Weiße Dampfwolken wallten zwischen den grinsenden Kiefern hervor.
»Brüllende Spinnen«, sagte Deryn leise und erinnerte sich, dass sie schon Bilder von dieser Maschine in den Boulevardzeitungen gesehen hatte.
Es war der Orient-Express.
Der große Zug schob sich vor. Deryn war gezwungen, sich weiter hinter die Kistenstapel zurückzuziehen. Aber den Blick konnte sie von dem Ungetüm nicht abwenden.
Der Express erschien ihr wie eine fremdartige Kreuzung zwischen einer osmanischen und einer deutschen Konstruktion. Der Motor erinnerte an ein Drachengesicht, aus dessen Maul eine lange Zunge heraushing. Doch die mechanischen Arme an den Güterwaggons waren nicht verziert und bewegten sich so geschmeidig wie die Flügel eines Falken hoch in der Luft.
Die Arme griffen in die Ladung und hoben Metallteile, Drahtspulen und Isolatoren aus Glas herunter, die wie riesige durchsichtige Glocken geformt waren. Der Zug entlud sich selbst, als würde ein gieriges Ungeheuer eine Schatzkammer ausrauben.
Plötzlich kam Leben in das einzige Auge des Drachen, einen grellen Scheinwerfer. Während das Licht in die Dunkelheit flutete, taumelte Deryn geblendet zurück, weil ihr Versteck plötzlich nicht mehr im Schatten lag.
Durch das Motorenschnaufen des Express rief jemand: »Wer ist da?« Und Deryn beherrschte genug Deutsch, um zu wissen, was damit gemeint war.
Man hatte sie entdeckt.
Halb blind drehte sie sich um und rannte los, wobei sie über einen Stapel Rohre stolperte. Die Rohre rollten unter ihren Füßen weg und Deryn ging zu Boden. Mit schmerzenden Knochen stand sie wieder auf und wankte dorthin, wo es wieder dunkel war und sie sich hinter einer großen Drahtspule verstecken konnte.
»Schleicher im Schatten.«
Ihr Knie tat weh und ihre Hände bluteten, weil sie sie beim Sturz aufgeschürft hatte. Außerdem setzte ihr Schwindelgefühl zu, denn vierundzwanzig Stunden ohne anständiges Essen verlangten langsam ihren Tribut. Das Klopfen in ihrer Brust fühlte sich dünn und schwach an, als hätte sie das Herz eines kleinen Vogels.
Dann fiel ein Schatten auf Deryn – ein riesiger Metallgreifer, der nach ihr langte. Sie warf sich flach auf den Boden, und die Klaue mit drei Fingern, welche Gummispitzen hatten, schloss sich um eine Drahtspule von der Größe eines Flusspferdartigen.
Die Maschine hielt einen Moment lang inne und korrigierte ihren Griff um die Spule. Deryn sah ihre Chance. Sie kletterte hinauf und stieg in den Hohlraum in der Mitte.
Mit einem Ruck ging es in die Höhe.
Der Boden glitt unter ihr dahin und unten zogen die elektrischen Fackeln der Verfolger durch das Labyrinth aus Kisten. Aber niemand dachte daran, einen Blick nach oben zu werfen.
Die Metallfinger packten fester zu und der Draht drückte sich um sie zusammen. Hatte der Arm-Führer sie entdeckt und beschlossen, sie zu zerquetschen?
Doch die Riesenkralle hatte nur nachgefasst. Kurz darauf wurde sie zwischen einem Dutzend anderer Spulen wieder abgesetzt.
Sie wartete, bis der Arm weggeschwenkt war, ehe sie hinauskletterte und nun auf einem Güterwaggon ohne Dach stand. Die Seitenwände überragten Deryn um ein kleines Stück und sie stieg hinauf und spähte nach draußen.
Es waren weitere Männer eingetroffen, die sich an der Suche beteiligten. Und auch Hunde: Zwei deutsche Schäferhunde zerrten ihr Herrchen hinter sich her und schnüffelten überall herum. Glücklicherweise hatte sie ja keine Fährte hinterlassen, weil sie mit dem mechanischen Arm hierhergelangt war. Aber sie musste aus diesem Güterwaggon verschwinden, ehe sie vom nächsten Frachtstück zermalmt würde.
Deryn ging zum vorderen Ende des Waggons und spähte in den nächsten. Der hatte ein Dach und eine hübsch verzierte Glastür. Sie stieg über die Wand, ließ sich zwischen den Waggons nach unten und knackte das Schloss mit ihrem Messer.
Rasch schlüpfte sie hinein, schloss die Tür und hielt das Messer vor sich.
»Hallo?«, flüsterte sie auf Deutsch und hoffte, man würde ihr nicht gleich den Darwinisten-Akzent anhören.
Niemand antwortete. Nachdem sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, stieß Deryn einen leisen Pfiff aus.
Sie war in einem Salonwagen gelandet, der so prunkvoll ausgestattet war wie ein Gehege mit Pfauen. Eine Reihe kleiner Tische stand auf der einen Seite. Die Messinghandläufe blitzten und die sanft gewölbte Decke war
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