Behemoth - Im Labyrinth der Macht
erledigte. Als sich Deryn erhob, wandte er sich wieder der Gasse zu und fegte weiter, ohne auch nur ein Wort zu verlieren. Natürlich würde er kaum von ihr erwarten, Türkisch zu sprechen. Im Hafen von Istanbul lagen vermutlich an jeder Ecke ausländische Seeleute, die sich an Brandyflaschen festhielten.
Aus der Ferne hörte sie Trommeln und kräftigen Gesang. Eigentlich erschien es ihr für solchen Lärm noch viel zu früh. Die drei Katzen, mit denen sie sich die Gasse geteilt hatte, schienen den Tumult kaum zu bemerken und schliefen weiter, nachdem der Straßenfeger wieder verschwunden war.
Deryn ging aufs Geratewohl los, bis sie den Wald aus Minaretten entdeckte, die beim Sultanspalast standen. Bestimmt gab es dort Restaurants für die Touristen. Die Küchlein in ihrem Magen hatten bereits wieder dem nagenden Hunger Platz gemacht, und sie brauchte einen klaren Kopf, wenn sie Alek in dieser riesigen Stadt finden wollte.
Zu Fuß in Istanbul unterwegs zu sein, unterschied sich erheblich von der Reise in einem Luftschiff oder auch dem Blick vom Howdah eines Riesenelefanten. Die Gerüche waren hier unten viel eindrücklicher – unbekannte Gewürze mischten sich mit Läuferauspuffgasen. Handkarren mit Erdbeeren fuhren vorbei und verbreiteten einen süßen Dunst. Überall lagen hungrige Hunde. Deryn hörte ein Dutzend Sprachen und ein Wirrwarr verschiedenster Schriften zierte die Zeitungsbuden. Glücklicherweise benutzte man auch einfache Handzeichen in diesem Babylon. Also würde sie sich gut verständlich machen können.
Als sie von Männern in Seemannskleidung angesprochen wurde, antwortete sie auf Mechanistisch. Sie hatte eine Handvoll Grüße von Bauer und Hoffmann gelernt, dazu auch eine Auswahl feinster Flüche. Ein bisschen Übung konnte nicht schaden.
Sie entdeckte ein Schaufenster mit Schnapsflaschen, staubte ihren Brandy ab und ging hinein. Zunächst blickte der Ladenbesitzer sie schief von der Seite an und schien geneigt, sie hinauszuwerfen, als er ihre unordentliche Kleidung sah und feststellte, dass sie verkaufen und nicht kaufen wollte. Doch nachdem er das Etikett der Flasche gelesen hatte, veränderte sich sein Benehmen. Er bot ihr einen Stapel Münzen an und legte noch einmal die Hälfte drauf, als sie ihm einen abschätzigen Blick zuwarf.
Die meisten Restaurants waren noch geschlossen, doch Deryn fand ein Hotel. Einige Minuten später saß sie vor einem Frühstück aus Käse, Oliven, Gurken, schwarzem Kaffee und einer kleinen Schüssel mit einer zähflüssigen Substanz namens Joghurt, die irgendwie eine Mischung aus Käse und Milch zu sein schien.
Beim Essen überlegte Deryn, wie sie Alek finden konnte. In seiner Nachricht an Volger hatte er gesagt, sein Hotel habe den gleichen Namen wie seine Mutter. Das klang ziemlich einfach, nur leider hatte Alek ihr nie den Namen seiner Mutter genannt. Natürlich kannte sie den seines Großonkels, des Kaisers – Franz Joseph –, und sie erinnerte sich, dass sein Vater ebenfalls Franz-Irgendwas geheißen hatte. Die Ehefrauen waren meist nicht so berühmt wie die Männer.
Eine Gruppe Seeleute ging vorbei, und sie fragte sich, ob einer von denen wohl Österreicher war. Bestimmt würde ein Österreicher den Namen der ermordeten Erzherzogin kennen, wenn Deryn ihm ihre Frage nur verständlich machen könnte.
Dann erinnerte sie sich an die andere Hälfte von Aleks Nachricht: Die Deutschen suchten nach ihm. Fragen nach einem flüchtigen Prinzen von einem Englisch sprechenden Seemann in deutscher Kleidung würden ganz sicherlich Verdacht erregen.
Sie musste die Antwort allein finden. Glücklicherweise war Aleks Familie berühmt. Dann mussten sie doch auch in Geschichtsbüchern stehen, oder? Also brauchte sie nur noch eine Art Familienstammbaum …
Eine Stunde später stand Deryn auf einer breiten Marmortreppe und hielt ein nagelneues Skizzenbuch in der Hand. Nach einem halben Dutzend Unterhaltungen in Zeichensprache und radebrechendem Mechanistisch hatte sie zu der neuesten und größten Bibliothek von Istanbul gefunden.
Die riesigen Messingsäulen glänzten in der Sonne und die dampfbetriebenen Drehtüren schoben unablässig Menschen hinein und hinaus. Als sie hindurchging, beschlich sie das gleiche eigenartige Gefühl wie im Salonwagen des Orient-Express. An einen so feinen Ort gehörte sie nicht und von der Geschäftigkeit so vieler Maschinen schwirrte ihr der Kopf.
Unter der Decke befand sich ein Wirrwarr aus Glasröhren, in denen sich kleine
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