Bei Anbruch des Tages
sprach wenig, aber ihr lebhafter Blick zeigte, wie stolz sie war, und das faszinierte Guido genauso wie ihre heisere Stimme.
Einmal steckte er ihr einen Zettel in den Schulranzen, auf dem stand: »Amaranta, du bist wie die Sonne. Neulich habe ich dich aus Versehen berührt und mich beinahe verbrannt. Manchmal kann ich dich kaum ansehen, weil mich dein Licht blendet. Ich liebe dich.«
Am Tag darauf hatte sie ihm »Du bist doof« zugeflüstert, und er hatte sich seiner dummen, spontan hingekritzelten Worte ge schämt. Dann hatte Amaranta ihm erklärt: »Ich habe dauernd Fie ber, deshalb ist meine Haut so heiÃ. Aber wir sind arm, wir haben kein Geld für einen Spezialisten, und der Arzt, den die Krankenkasse zahlt, kann mich nicht heilen. Aber es ist nicht so schlimm. Nur lass bitte die blendende Sonne aus dem Spiel! Du hast keine Ahnung, wie es uns Armen geht! Meine Mutter hat noch fünf weitere Kinder, um die sie sich kümmern muss, auÃerdem arbeitet sie auf dem Feld. Mein Vater ist Maurer und verdient nur wenige Lire.«
Irgendwann hatte sich Guido seinem GroÃvater anvertraut und gefragt: »Können wir ihnen nicht helfen?«
»Reich sein heiÃt nicht allmächtig sein. Würden wir allen etwas geben, könnten wir am Ende niemandem mehr helfen. AuÃerdem haben auch arme Menschen ihre Würde. Du würdest der Familie Casile gern Geld schenken, aber es wäre nur ein Tropfen auf den heiÃen Stein. Danach ginge alles wieder von vorne los.«
»Es gibt also keine Hoffnung für sie?«
»Hoffnung worauf? Auf soziale Gerechtigkeit? Das überlassen wir lieber den Politikern, die im Wahlkampf groÃe Worte machen. Gerechtigkeit hat es in der Welt noch nie gegeben und wird es auch niemals geben.«
Nach der Grundschule wurde Guido, entsprechend der Familientradition, aufs Internat geschickt, und er vergaà Amaranta, bis er nach seinem Universitätsabschluss in die Firma eintrat, um seinen Vater zu unterstützen.
2
D amals florierte das Familienunternehmen. Die Cantonis hatten das alte Gebäude, den ursprünglichen Sitz der Armaturenfirma, restauriert und nutzten es nun ausnahmslos als Büro. Daneben hatten sie eine moderne Fabrik mit einer Kantine für die Arbeiter errichtet. Dort gab es auch eine Ambulanz, in der eine Krankenschwester und ein Arzt Dienst taten. Die Anzahl der Beschäftigten war so stark gewachsen, dass fast alle Einwohner von Villanova für die Cantonis arbeiteten.
Die Landwirtschaft, die jahrhundertelang die einzige Einnahmequelle gewesen war, war jetzt der Fabrikarbeit gewichen, und der Grund und Boden, der früher dem Ackerbau gedient hatte, war jetzt Baugrund. Die Peripherie um den alten Ortskern war beinahe eine einzige Baustelle. Dort schossen Mehrfamilienhäuser wie Pilze aus dem Boden, um die Arbeiter und ihre Familien zu beherbergen, die überwiegend aus Süditalien kamen. Die Cantonis besaÃen zig Häuser, deren Wohnungen zu günstigen Preisen an die Fabrikarbeiter vermietet wurden. Es war die Zeit der Demonstrationen und Sprechchöre, der häufigen Streiks. Die meisten Arbeiter waren Gewerkschaftsmitglieder â nicht jedoch die bei Cantoni-Armaturen. Als die Gewerkschaftsvertreter einmal in die Fabrik kamen und eine Ansprache vor dem Personal hielten, bekamen sie nur zu hören: »Ehrlich gesagt werden wir anständig bezahlt, und unsere Verträge handeln wir selbst mit den Chefs aus.«
Dank des täglichen Umgangs mit Amilcare, ihrem Chef, der genau wie sie erst Bauer und dann Arbeiter gewesen war und ihre Sprache sprach, genossen sie einige Privilegien. Die Arbeiter erzählten ihm von ihren Bedürfnissen, und Amilcare hörte ihnen zu. Kam es zu Meinungsverschiedenheiten, fand man meistens eine gemeinsame Lösung, die alle zufriedenstellte.
Amilcare hatte Guido von klein auf eingeschärft: »Die Fabrik ist unsere Familie. Geben wir unseren Angestellten ein Dach über dem Kopf und nahrhaftes Essen, bleiben sie gesund und arbeiten gut. Bezahlen wir unsere Arbeiter anständig und respektieren sie, sodass sie sich als Teil der Firma fühlen, arbeiten sie besser. Merk dir das, denn eines Tages wird Cantoni-Armaturen dir gehören!«
Guidos Zukunft war vorgezeichnet. Aber seine wahre Leidenschaft war die Literatur, und er hätte eine Arbeit bei der Universität jeder Tätigkeit im Familienunternehmen vorgezogen. Nur wagte er nicht, dies einzugestehen.
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