Bei Hitze ist es wenigstens nicht kalt - Roman
einem kleinen Tisch, bevor sie es sich bequem machte. Doris hatte sich schon unter einer Wolldecke ausgestreckt und atmete tief aus.
»Weck mich, wenn es Zeit zum Essen ist. Oder für einen kleinen Sekt.«
»Tagsüber keinen Alkohol, Goldstein«, sagte Katja, während sie ihre Decke auseinanderschüttelte. »Schlecht für die Haut und die Figur.«
»Ich … also …«
Katja legte den Finger auf die Lippen. »Ruheraum. Wir müssen nicht darüber reden. Nur aufpassen.«
Mit einem Lächeln stopfte Doris sich zwei Kissen in den Rücken und deckte sich zu. Als sie das Umblättern der Seiten hörte, schloss sie die Augen.
Katja betrachtete das entspannte Gesicht. Doris hatte sich gar nicht so sehr verändert. Natürlich gab es Falten um die Augen und die Oberlippe war ein bisschen schmaler geworden, auch die Wangen waren nicht mehr so glatt gerundet wie damals, aber sie hatte immer noch dieses offene Dorisgesicht. Besonders dann, wenn sie sich nicht so furchtbar anstrengte, um alles richtig zu machen.
Zu den Zeiten der ›Wilden Wörter‹ war sie die Unkomplizierteste gewesen. Sie kam aus einem wunderbar normalen |159| Elternhaus, turnte im Sportverein, hatte in der Schule keine Probleme und schon mit fünfzehn einen festen Freund, Torsten. Katja hatte damals gedacht, dass Doris irgendwann einmal rebellieren würde. Von heute auf morgen würde sie sich mit ihren Eltern zerstreiten, die Schule an den Nagel hängen, den netten Torsten verlassen, mit Drogen experimentieren und nach Südfrankreich trampen, um dort mit einem Jazzmusiker am Meer zu leben und wilde Naturbilder zu malen. Stattdessen hatte sie ein gutes Abitur gemacht und anschließend ein paar Semester Grafikdesign studiert. Als sie mit ihrem ersten Kind schwanger war, gab sie das Studium auf, erleichtert, wie sie damals erzählte. Sie habe keine Lust mehr gehabt, die Arbeit in Torstens Familienunternehmen als eine Art Innenausstatterin mache ihr viel mehr Spaß.
Katja hatte ihr das nie so ganz geglaubt, auf die Rebellion aber vergeblich gewartet. Doris war ihr Leben lang in der Spur geblieben, vielleicht war genau das ihr Problem. Und jetzt wurde sie fünfzig, die Zeit für verrückte Dinge wurde knapp.
Eine Bewegung an der Tür des Ruheraumes ließ Katja aufblicken. Ankes Retter aus dem Treppenhaus stand dort, sah sich kurz um und lächelte entschuldigend, bevor er die Tür von außen wieder schloss. Vermutlich war er auf der Suche nach seiner Frau. Schade für Anke. Die hatte selten Gefühle gezeigt. Das Schlimmste für sie war Mitleid zu erregen. Selbst als ihr Vater starb, kehrte sie zwar blass und noch dünner, aber nach außen hin gefasst und kurz angebunden wie immer in die Schule zurück. Sie lehnte jedes Gespräch über ihre Trauer ab, stürzte sich in die Arbeit, schrieb in den folgenden Wochen sämtliche Klausuren mit Bestnoten und |160| konzipierte die Ausgabe der ›Wilden Wörter‹, für die sie dann später den Preis bekamen.
Nach dem Abitur tauchte sie ein paar Monate ab, rief niemanden an, beantwortete keine Briefe und traf keinen der alten Freunde. Katja erklärte es sich mit verspäteter Trauerarbeit, erwartete aber von Anke keine Erklärung und fragte deshalb auch nie nach.
Es war schon seltsam. Sie waren so unterschiedlich und trotzdem gab es da eine Verbindung, die jetzt noch, nach all den Jahren, zu spüren war. Sie hatten gemeinsam ihre Anfänge versucht, vielleicht waren sie deshalb so vertraut miteinander.
Doris schnarchte leise und schreckte selbst von diesem Geräusch hoch. »Oh«, sie gähnte und stützte sich auf ihre Ellenbogen. »Habe ich geschnarcht? Peinlich.«
»Ganz leise nur«, beruhigte sie Katja. »Hat außer uns niemand mitbekommen. Dein Ruf bleibt unbeschadet.«
»Dann ist es ja gut.« Sie suchte nach einer Uhr. »Wie spät ist es denn? Ist Anke schon beim Friseur? Nicht, dass sie vor dem Färben kneift, nur weil wir das arrangiert haben.«
»Halb drei.« Katja hatte eine Uhr entdeckt. »Wir sollten da mal vorbeisehen«, sagte sie und stand auf.
Als sie den Salon betraten, strich die Friseurin die Farbe bereits mit einem dicken Pinsel auf Ankes Haare.
»Was für ein Ton wird es denn?« Katja trat hinter Anke und legte ihr die Hände auf die Schultern. »Platinblond?«
»Grün«, antwortete Anke und sah Katja im Spiegel an. »Ich wollte mal was ganz anderes. Und grün ist die Hoffnung.«
|161| »Hallo.« Doris benahm sich natürlich wieder besser und begrüßte zunächst, nach einem
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