Bei Landung Liebe
der Balance. Wer wusste schon, wie lange die beiden ihr Wiedersehen bereits feierten.
„Du kennst meinen alten Freund doch noch, oder?“
Mein Blick wanderte zu Ryan, der mir einen kurzen, und wie ich fand verächtlichen Blick zuwarf, während er die Bierflasche an seine Lippen hob und sich wieder dem Geschehen auf dem Fernseher zuwandte. Gut, er hatte wohl beschlossen, nicht mit mir zu sprechen.
„Klaro“, erwiderte ich knapp.
Wie hätte ich auch Ryan vergessen können? Ryan, dem es höllischen Spaß bereitet hatte, die Haare meiner Barbiepuppen anzuzünden, um mir dann die verschmorten Köpfe zu präsentieren. Ryan, der Teufel, der mir während der Pause in der Schule die Luft aus dem Fahrradreifen gelassen hatte, um mich dann auszulachen, wenn ich nach der Schule den platten Drahtesel nach Hause schieben musste. Ryan, die Ausgeburt der Hölle, der mir die Batterien meines Kassettenrekorders versteckt, mir eine tote Kakerlake in meine Federmappe gelegt und mir Wasser in meine Gummistiefel geschüttet hatte. Die Liste seiner diabolischen Späße ließe sich beliebig in die Länge ziehen. Wie um alles in der Welt sollte ich Ryan, den Albtraum meiner Kindheit, vergessen?
Ich konnte mich noch genau an das hämische Gelächter erinnern, das mich verfolgte, wann immer der beste Freund meines Bruders mir wieder einen seiner Streiche gespielt hatte. Ebenso erinnerte ich mich an die bohrenden Blicke seiner eisblauen Augen, die sich tief in meine Seele zu graben schienen, wann immer ich gedemütigt von seinen Streichen in einer Ecke saß und weinte. Immer wenn ich dachte, dass Ryan mich in diesem Versteck nicht finden würde, tauchte er meist genau in diesem Moment auf, bedachte mich mit einem abschätzigen Blick und lachte mich aus.
„Isabelle“, begann Markus.
Isabelle? So nannte mich mein Bruder nur, wenn er etwas von mir wollte. Ich wurde schon immer von allen nur Isa genannt.
„Ryan hat im Moment noch keine Wohnung, da er gerade erst zurückgekommen ist. Darum hab ich meinem alten Kumpel angeboten, die nächste Zeit auf unserer Couch zu schlafen. Das geht doch in Ordnung, oder?“
Verstand ich meinen Bruder gerade richtig? Ryan war zurückgekommen ? Wollte der etwa auch noch bleiben?!
Ich seufzte innerlich. So wie sich das anhörte, war es bereits beschlossene Sache, dass Ryan hier bleiben sollte. Manchmal könnte ich meinen Bruder erwürgen. Ryans Rückkehr und die Aussicht, mit zwei noch nicht ganz erwachsenen Jungs unter einem Dach leben zu müssen, war genau das, worauf ich mit Vergnügen verzichten könnte! Doch einer dieser zwei Jungs war schließlich mein Bruder, der den Rest meiner Familie darstellte, seit unsere Eltern vor zwei Jahren ums Leben gekommen waren. Ich sah ihn an und hoffte, er würde erkennen, wie schlimm das, was er vor mir verlangte, für mich war. Doch mein Bruder hielt mich immer noch im Arm, nein, vielmehr stützte er sich auf mich und grinste. Seine Alkoholfahne drehte mir fast meinen noch leeren Magen um. Mir schossen Tausend Gedanken durch den Kopf. Ryan war mit Abstand die Person, die ich am meisten hasste. Nein, hassen war das falsche Wort. Verachten traf es besser.
Misstrauisch beobachtete ich Ryan. Wie selbstgefällig er da saß. Auf meinem Sofa! Seiner Haltung nach zu urteilen, kam es ihm überhaupt nicht in den Sinn, irgendwo unerwünscht zu sein. Scheinbar fühlte er sich schon ganz wie zu Hause. Er trug eine ausgewaschene Jeans und ein einfaches schwarzes Polohemd, dessen Knöpfe offen waren und einen Blick auf seinen gebräunten Oberkörper gestattete. Ebenso konnte man seine wohl definierten Muskeln erahnen. Er hatte offenbar sehr viel Sport getrieben. Schade, ein untersetzter, von Geheimratsecken geplagter Ryan wäre mir wesentlich lieber gewesen, als diese gutaussehende Version, die nun hier saß. Seine dunkelblonden Haare trug er etwas länger als früher, aber ich konnte mich auch täuschen. Immerhin hatte ich ihn seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen.
Fieberhaft überlegte ich, wie ich aus dem Schlamassel heraus kommen könnte, aber mir fiel auf die Schnelle nichts Glaubwürdiges ein, womit sich verhindern ließ, dass Ryan bei uns wohnt. Vielleicht sollte ich einfach sagen, dass ich in einem Anflug geistiger Umnachtung unser Sofa einem Obdachlosen geschenkt hatte. Aber Markus sah mich mit einem so unschuldigen Blick an, dass ich es nicht übers Herz brachte, ihm die Wahrheit zu sagen. Nämlich, dass es ganz und gar nicht in Ordnung war, wenn Ryan
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