Bei Tag und bei Nacht
Die Dorfbewohner hielten ihn also für einen Sonderling, grübelte sie, als sie die Autotür zuschlug.
Sie fuhr vorsichtig die Straße entlang und zwang sich, keinen Blick in den Rückspiegel zu werfen. Bei der Abzweigung hielt sie sich links. Das einzige Zeichen von Grant Campbell war das laute Brummen seines Trucks, als er davonbrauste. Ich werde ihn aus meinem Gedächtnis streichen, nahm Gennie sich vor.
An beiden Seiten des Weges blühten wilde Blumen. Die Aussicht wurde nicht durch Bäume versperrt, und Gennie fand das Haus schnell. Sie war begeistert. In ihrer Fantasie sah sie eine Frau in sauberem Hauskleid, die im Garten Wäsche aufhängte. Ein braun gebrannter Fischer könnte auf der Bank sitzen und sein Netz flicken. Türen und Fensterläden waren wohl ursprünglich blau gewesen, doch das Wetter hatte die Farbe in ein unbestimmtes Grau verwandelt. Von einer geschützten Veranda aus überblickte man die Bucht. Der lange hölzerne Bootssteg, der über das ruhige, seichte Uferwasser hinausreichte, schien etwas wackelig zu sein. Dicht am Strand hatte jemand eine Weide gepflanzt.
Gennie stellte den Motor ab und war überrascht von der plötzlichen Stille. Wie angenehm und friedlich! Hier ließ es sich leben und arbeiten. Es war aber ganz anders als bei Grant mit dem ständigen Brechen und Dröhnen der Wellen.
Oh nein – sie erinnerte sich energisch an ihren Schwur, nicht mehr an Grant zu denken. Dabei sollte es auch bleiben.
Sie stieg aus, klemmte sich einen Karton mit Lebensmitteln unter den Arm und ging die Stufen hinauf zur Vordertür. Das alte Schloss bereitete ihr einige Schwierigkeiten, bis es mit mächtigem Knarren nachgab.
Das Erste, was Gennie bemerkte, war die Ordnung. Mrs. Lawrence hatte mit Recht behauptet, dass ihr Haus in sauberem Zustand sei. Es hingen zwar Staubbezüge über den Möbeln, aber Staub gab es keinen. Offensichtlich kam die Witwe regelmäßig her, um sauber zu machen. Helle Flecken an den Wänden zeigten die Stellen, wo Bilder gehangen hatten, als das Haus noch bewohnt und voller Leben war. Die Küche ließ sich leicht finden. Gennie stellte dort ihre Sachen ab. Auch hier herrschte die gleiche makellose Sauberkeit. Die Spüle aus Porzellan glänzte. Gennie drehte den Wasserhahn auf und stellte fest, dass die Leitung wirklich funktionierte. Durch die Hintertür trat sie hinaus auf die überdachte Veranda. Die Seeluft war warm und feucht. Jemand hatte am Windschutz ein paar Löcher repariert. Die Farbe auf dem Fußboden war rissig geworden.
Für Gennies Empfinden erschien alles zu sauber. Es gab im ganzen Haus keinerlei Anzeichen von Leben. Man konnte sich kaum vorstellen, dass es früher von fröhlichen Menschen bewohnt wurde. Gennie war das geniale Durcheinander in Grants Leuchtturm sympathisch. Dort hauste jemand – und wie! Sie schüttelte den Kopf und verdrängte diese Gedanken. Hier würde es auch bald anders ausschauen. Dafür wollte sie sorgen. Mit schnellen Schritten lief sie zu ihrem Wagen und begann mit dem Auspacken.
Viel Gepäck hatte Gennie nicht, und ihre Sachen waren nach einem gewissen Schema geordnet. Deshalb dauerte es keine zwei Stunden, und das Einräumen war erledigt. Nur in einem der beiden kleinen Schlafzimmer stand ein Bett.
Als sie es beziehen wollte, merkte sie, dass es ein Federbett war. Entzückt verbrachte sie einige Zeit damit, die Kissen zu schütteln und sich hineinfallen zu lassen. In dem leeren Raum verstaute sie ihre Mal- und Zeichenutensilien. Als die Staubbezüge von den Möbeln abgenommen waren und an den dunkleren Stellen der Wände ein paar ihrer eigenen Bilder hingen, fühlte sie sich schon beinahe zu Hause.
Barfuß und höchst zufrieden inspizierte sie den Bootssteg. Einige der Bretter knarrten, andere wackelten, aber das Gebälk schien stabil zu sein. Sollte sie sich ein kleines Boot besorgen, um die Bucht auszukundschaften? Alles stand ihr frei, sie konnte tun und lassen, was sie wollte. Wahrscheinlich würde ihr altes Leben sie irgendwann wieder nach New Orleans ziehen, aber die Wanderlust, die sie vor sechs Monaten hierher in den Norden getrieben hatte, war noch nicht gestillt. Wirklich Wanderlust? Nein, das war nicht richtig. Schuldgefühl wäre treffender, oder Schmerz. Sie spürte es noch immer. Das würde vielleicht nie mehr anders sein. Dabei war schon über ein Jahr seitdem vergangen: siebzehn Monate, zwei Wochen und drei Tage. Gennie schloss gequält ihre Augen. Angelas Bild stand deutlich vor ihr. Vielleicht sollte sie
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