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Bei Tag und bei Nacht

Bei Tag und bei Nacht

Titel: Bei Tag und bei Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nora Roberts
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sogar Dankbarkeit empfinden, dass ihr künstlerisches Vorstellungsvermögen das Antlitz der Schwester jederzeit reproduzieren konnte.
    Sie war so jung, schön und voller Leben gewesen. Wie schrecklich dagegen der Anblick der stillen, blutverschmierten Angela, nachdem Gennie sie totgefahren hatte.
    Es war nicht deine Schuld! Wie oft war ihr das versichert worden? Du konntest nichts dafür und darfst dich nicht derart damit belasten.
    Gennie seufzte. Oh doch! Denn ich habe am Steuer gesessen. Meine Reflexe sind nicht schnell genug gewesen, als ich den Wagen sah, der bei Rot über die Kreuzung raste. Doch niemand kann es ungeschehen machen. Alles Grübeln und Leiden ist umsonst.
    Der Kummer schlug wie eine Welle über Gennie zusammen. Sie wusste, dass sie nur durch ihr Talent und ihre Kunst das Unglück verkraftet hatte. Natürlich half auch die Reise. Aber die Erinnerungen waren nicht auszulöschen. Nur wenn sie sich auf ihre Arbeit konzentrierte, wurden sie ganz in den Hintergrund gedrängt.
    Während der letzten Jahre war die Kunst für Gennie fast zu einem Geschäft geworden. Ausstellungen und der Verkauf ihrer Bilder hatten viel Zeit beansprucht. Kohle, Öl- und Aquarellfarben sowie viel leere Leinwand warteten darauf, von Gennie mit Leben gefüllt zu werden.
    Vielleicht hatte der Verlust ihrer Schwester ihre Arbeit beeinflusst. Denn Gennie versuchte jetzt, Realismus in ihren Bildern auszudrücken. Anscheinend wollte sie sich dadurch zwingen, das Leben sowie den Tod zu akzeptieren.
    Bisher kennzeichnete auch ihre abstrakten Gemälde ein geheimnisvoller Hauch. Nun drängte sich der Alltag in den Vordergrund, sachlich und kühl. Diese Realität war keineswegs immer hübsch anzusehen, aber darin lag eine Kraft, die Gennie langsam zu begreifen begann.
    Sie atmete tief. Ja, diese ruhige, stille Bucht würde sie malen, wenn die Zeit dafür reif war. Fürs Erste jedoch reizte sie die Herausforderung und Macht des Ozeans. Sie schaute zur Uhr. Es war beinahe Mittag. Jetzt würde Grant bestimmt mit seinem Boot draußen sein und versuchen, die kostbare Zeit aufzuholen, die Gennie ihm gestohlen hatte. Das gab ihr Gelegenheit, den Leuchtturm drei oder vier Stunden lang von verschiedenen Seiten aus zu skizzieren. Er würde es überhaupt nicht merken. Und wenn schon … Sie zuckte mit den Schultern. Es konnte ihm eigentlich gleichgültig sein. Eine Frau mit Skizzenblock war schließlich nicht gerade als Landplage zu bezeichnen.
    Grants Studio lag auf dem dritten Treppenabsatz. Genauer gesagt, es war das dritte Geschoss. Die ursprünglichen drei Zimmer – nicht größer als Taubenschläge – hatte er in einen Raum umgewandelt, in den von allen Seiten, besonders von Norden, viel Licht einfiel. Sein Werkzeug und alle notwendigen Gerätschaften befanden sich in Glasschränken und waren nach einem wohldurchdachten Schema geordnet. Es gab alle Sorten von Füllfederhaltern, Kugelschreibern, Bürsten, Pinseln und Messern, aber auch eine große Auswahl an Bleistiften, Radiergummis, Zirkeln und Winkeln. Ein Ingenieur oder Architekt hätte wahrscheinlich die Qualität des Handwerkszeugs erkannt und geschätzt. Auf das Zeichenbrett hatte Grant einen großen Bogen mattes Skizzenpapier geheftet.
    An der weiß getünchten Wand, auf die er von seinem Arbeitsplatz aus blickte, hing ein Spiegel und ein gerahmter Neudruck von »The Yellow Kid«, einem nahezu hundert Jahre alten Cartoon-Strip. An der anderen Seite des Raumes stand ein altmodisches Radio neben einem höchst modernen Farbfernseher. Zeitungen und Magazine stapelten sich in der Ecke hüfthoch. Das Studio machte den Eindruck äußerst praktischer Nutzbarkeit. Das war der einzige Gesichtspunkt, den Grant gelten ließ.
    Er arbeitete an diesem Morgen ohne Eile. Manchmal war das anders. Dann raste er förmlich und war nicht zu bremsen. Der Grund war dann keineswegs ein besonderer Termin, denn seinem Zeitplan nach arbeitete er immer einen Monat im Voraus. Ihn trieben eigene Gedanken, Einfälle, Ideen. Die Nacht wurde zum Tag, bis er sicher war, alles auf seinem Papier mit Tinte und Stift festgehalten zu haben, wie sein Kopf es sich erdacht hatte.
    Das letzte Projekt war in den frühen Morgenstunden fertig geworden. Nun beschäftigte ihn etwas Neues, noch vage und nicht klar zu umreißen. Dem Drängen seines künstlerischen Schaffens widersetzte Grant sich nur selten. Mit einem blauen Stift unterteilte er das Zeichenblatt durch diagonale Linien, die sich später nicht fotografieren lassen

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