Bei Tag und bei Nacht
würden, in einzelne Felder. Er wusste ungefähr, worauf er hinauswollte, und die Vorbereitungen waren unerlässlich, wenn auch mühsam und zeitraubend. Diese Mühe würde man der fertigen Arbeit später nicht mehr ansehen. Als Grant die Fläche in fünf Sektionen gegliedert hatte, begann er zu zeichnen. Gedankenverloren erweckte er mit sparsamen, charakteristischen Strichen die Hauptfigur zum Leben, von der seine Schwester meinte, sie sei sein zweites Ich.
Vor zehn Jahren hatte Grant seinen Helden Macintosh erfunden. Er war ein ganz gewöhnlicher Mensch. Durch seine kräftige Nase und die ausdrucksvollen, erstaunten Augen hatte er ein typisches Aussehen, doch stellte er den kleinen Mann dar, der überall anzutreffen ist und kaum auffällt. Weil er immer etwas dünn wirkte, gelangen seine Versuche nie, sich durch modische Kleidung herauszuputzen. Macintosh benahm sich oft ungeschickt und schien sich stets abweisend zu verhalten. Seine Äußerungen waren jedoch treffend, wenn auch ein bisschen spöttisch.
Grant hatte ihm Freunde gegeben. Sympathische Träumer und smarte Burschen, so wie er sie vom College her kannte. Diese Allerweltsfiguren schlugen sich mit alltäglichen Dingen auf höchst ungewöhnliche Weise herum. Das war die Grundidee der Bilderserie.
Der Macintosh war schon während Grants Studienzeit entstanden und hatte dann jahrelang fast vergessen in einer Schublade gelegen, während Grant sich mit Kunst und Malerei beschäftigte. Sein Talent war beachtlich, möglicherweise hatte er eine große Karriere vor sich. Aber er stellte fest, dass ihm die Anfertigung von Karikaturen mehr Spaß machte als das Malen eines Porträts. Schließlich blieb Macintosh Sieger: Grant ließ ihn endgültig wieder aufleben. Seit nunmehr sieben Jahren erschien dieser etwas weltfremde, einfältige Charakter täglich in allen größeren Zeitungen des Landes.
Die Leser folgten Macintoshs Leben und Abenteuern beim Trinken des Morgenkaffees, in der Untergrundbahn, im Bus oder im Bett. Über eine Million Amerikaner öffneten ihre Zeitung und schauten sich erst einmal an, was Macintosh vorhatte, ehe sie ihren eigenen Tag begannen.
Von einem Cartoonisten wurde verlangt, sein Publikum zu amüsieren. Das musste mit wenigen kurzen Sätzen und durch einfache Zeichnungen gelingen. Man betrachtete einen Comic-Strip höchstens zehn oder zwölf Sekunden lang und legte ihn dann beiseite. Grant machte sich keine Illusionen: Das Darüber-lachen-Müssen war wichtig! Die Tatsache, dass es ihm immer wieder gelang, die Leser fröhlich zu stimmen, und das Gefühl, den eigenen Tagesablauf wiederzuerkennen, war das Geheimnis seines Erfolges.
Grant selbst wollte dabei keineswegs in den Vordergrund tre- ten – im Gegenteil. Man druckte nur seine Initialen. In dem Vertrag mit United Syndicate stand ausdrücklich, dass sein Name niemals im Zusammenhang mit dem Comic-Strip genannt werden durfte. Weiterhin brauchte er keine Interviews zu geben oder persönlich zu erscheinen. Diese Anonymität war Grant genauso viel wert wie sein jährliches Einkommen.
Inzwischen war Grant bei der zweiten Sektion angelangt. Er zeichnete Macintosh, der schimpfte, als er durch energisches Klopfen an der Tür bei seinem Hobby gestört wurde. Macintosh beschäftigte sich nämlich mit Briefmarken und hoffte, eines Tages dadurch reich zu werden. Nun musste er öffnen und stand plötzlich einer durchnässten, schlecht gelaunten Frau gegenüber.
Es war für Grant ein Leichtes, mit sicheren Strichen das Bild von Gennie auf das Zeichenblatt zu zaubern. Die Tatsache, dass er sie zu einer Figur in seiner Comicserie machte, würde sie in ihre Schranken zurückweisen. Damit war sie genauso lächerlich und angreifbar wie die übrigen Personen seiner Fantasiewelt. Indem Gennie zu einer Figur der Bildgeschichte wurde, konnte Grant sie nach Belieben erscheinen und wieder verschwinden lassen.
Grant taufte sie auf den Namen Veronica. Der altmodische Name gefiel ihm. Gennies schräg gestellte Augen und die üppige Sinnlichkeit ihres Mundes waren absichtlich übertrieben. Die Geschichten spielten meist in Washington, D.C. Auf ihrem Heimweg von der Arbeit im Weißen Haus hatte Veronica eine Reifenpanne.
Macintosh starrte die Frau vor seiner Tür an.
Zwei Stunden lang arbeitete Grant ununterbrochen. Er vervollständigte den Ablauf der Geschichte sowie die einzelnen Situationen und die Pointe am Schluss.
Macintosh musste Veronicas Reifen wechseln. Dabei gab er sich betont männlich, um ihr
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