Bei Tag und bei Nacht
Strandspaziergang gesehen.
Was geht in dir vor, Grant? überlegte sie und konnte nicht widerstehen, mit seinem zerzausten Haar zu spielen. Warum bist du so misstrauisch und so einsam? Wie ist es nur möglich, dass es mein sehnlichster Wunsch ist, dich zu verstehen und mit dir zu teilen, was dich im Geheimen belastet?
Behutsam führte sie ihre Fingerspitze um Grants Kinn herum. Welch hartes, männliches Gesicht er hatte! Trotzdem kam manchmal unerwartet Humor und Zärtlichkeit in seinen Blick. Dann verging die Härte, und nur die männliche Stärke blieb.
Grob konnte er auch sein und verschlossen und arrogant. Aber all das gehörte zu ihm, und sie liebte ihn trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen. Durch seine Zärtlichkeit hatte sie sich erlaubt, es einzugestehen. Im Inneren wusste sie es schon lange.
Die Sehnsucht, es ihm zu sagen, war groß. Er hatte ihren Körper besessen, ihre Unschuld genommen, und sie vertraute ihm. Auch ihre Gefühle wollte sie mit ihm teilen. Musste man Liebe nicht freiwillig geben, anspruchslos und ohne Bedingungen? Aber Gennie kannte Grant. Dieser Schritt musste zuerst von seiner Seite aus kommen. Das verlangte sein Naturell. Ein anderer Mann wäre möglicherweise geschmeichelt und erfreut, sogar erleichtert, dass sich die Frau ihm offenbarte. Grant – das wusste Gennie genau – würde sich eingeengt fühlen, herausgefordert.
Gennie lag ganz still neben dem schlafenden Grant. War er durch eine Frau so verletzt worden und hatte deshalb die Einsamkeit als Konsequenz gewählt? Es musste Schmerz gewesen sein und maßlose Enttäuschung, dessen war sie sicher. Im Inneren seines Herzens war er freundlich, versteckte es aber. Warum? Hoffentlich brachte sie Geduld genug auf, sich nicht in seine Geheimnisse zu drängen, sondern zu warten, bis er ihr freiwillig Vertrauen schenken würde.
Warm und glücklich schmiegte Gennie sich an ihn und flüsterte seinen Namen. Grants Antwort war unverständliches Murmeln, er drehte sich auf den Bauch und verbarg sein Gesicht im Kissen. Diese Bewegung engte Gennies Platz im Bett noch mehr ein.
»Hey!«, rief sie und stupste ihn lachend an der Schulter. »Du machst dich sehr breit.«
Keine Reaktion.
Du romantischer Teufel! dachte sie. Dann küsste sie ihn auf die nächstliegende Stelle und schlüpfte aus dem Bett. Sofort ergriff er Besitz von dem frei gewordenen Platz.
Ein Einzelgänger, überlegte Gennie, während sie ihn eingehend und zärtlich betrachtete. So wie er quer über dem Bett lag, hatte er noch nie Rücksicht auf einen anderen nehmen müssen. Nach einem letzten gedankenvollen Blick ging sie zum Badezimmer, das auf der anderen Seite des Flurs lag.
Das Geräusch des laufenden Wassers weckte ihn. Ganz still blieb er liegen und erwog ernsthaft, wie viel Anstrengung es kosten würde, jetzt die Augen zu öffnen. Das war ein allmorgendliches Ritual. Sein Kissen duftete nach Gennie. Sanfte, verlockende Bilder drängten sich in seine Gedanken, die ihn zugleich erregten und beunruhigten. Grant bewegte sich, immer noch im Halbschlaf, und musste feststellen, dass er allein im Bett lag. Er spürte ihre Wärme auf dem Laken und an seiner Haut und wusste nicht, warum das so selbstverständlich schien. Er wollte es auch nicht wissen.
Er erinnerte sich, wie sie roch und schmeckte, wie ihr Puls sich unter der Berührung seiner Finger beschleunigte. Benommen setzte er sich auf und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als Gennie zurückkam.
»Guten Morgen!« Um den Kopf hatte sie ein Handtuch gewickelt, und sein viel zu großer Bademantel hing lose um ihre Hüften. Sie setzte sich auf den Bettrand, verschränkte ihre Hände in seinem Nacken und küsste ihn. »Noch nicht munter?«
Sie duftete nach Seife und Shampoo. Grant wollte sie greifen, doch geschickt wich Gennie aus.
»Beinahe.« Er zog das Tuch von ihrem Kopf. »Bist du schon lange wach?« Ihr Haar war noch feucht.
»Seitdem du mich aus dem Bett gestoßen hast. Wie ist es mit Kaffee?«
Grant ergriff Gennies Hand und zögerte. »Ja«, meinte er dann, »in einer Minute bin ich unten. Das Frühstück ist heute meine Sache.« Eigentlich wollte er etwas anderes sagen. Aber wie sich ausdrücken? Gennie spürte seine Unentschlossenheit, fragte aber nicht, sondern ließ ihn allein. Ihre Schritte verklangen.
Grant blieb noch einen Augenblick im Bett und hörte ihren Schritten nach. Ihre Schritte – meine Treppe. Irgendwie schien sich die Demarkationslinie zwischen ihnen beiden zu verschieben.
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