Bei Tränen Mord: Roman (German Edition)
er hinter mir.
»So ein
Mädchen wie du hat sich eine Leckerei wirklich verdient.«
Hat der
Typ noch alle beisammen? Entgeistert drücke ich mich an die Seite, als er die Stufe
erklimmt, auf der ich stehe, und sich neben mich schiebt. Meine Hose schrappt am
Geländer der Rolltreppe entlang. Unmöglich! Sein Gesicht schwebt über meinem, und
ich rieche den Geruch eines langen Bürotages aus seinem billigen Sakko aufsteigen.
Jetzt legt er eine Hand auf meinen Arm.
Ich sehe
rot! Ich denke daran, ihn heftig von mir zu schubsen, dann geht plötzlich alles
ganz schnell. Er stolpert und fällt die Treppe nach oben. Seine Krawatte beschreibt
einen Bogen wie eine Fahne im Wind. Wir haben fast das Ende der Rolltreppe erreicht,
da wird die Krawatte unerbittlich mit der obersten Stufe eingezogen. Es dauert nicht
lange, bis der Typ, Pralinenschachtel und Aktentasche weit von sich werfend, mit
dem Kopf auf dem unbeweglichen Metallteil landet, sein Gesicht sich immer röter
färbt, die Augen aus den Höhlen quellen, und ich, über ihn hinweghüpfend, voller
Schrecken erkenne, dass er gerade von der Rolltreppe stranguliert wird, die seine
Krawatte stetig weiter einzuziehen versucht.
Der Notknopf!
So eine Treppe hat doch irgendwo einen Notknopf! Hektisch und laut kreischend suche
ich nach einer Art Buzzer, aber ich kann keinen finden. Die Treppe gibt fürchterliche
Töne von sich, der lange Dürre gibt fürchterliche Töne von sich. Ich finde noch
immer keinen Knopf, mit dem ich die Treppe anhalten kann. Dann rutscht ein stabiler
Kugelschreiber aus der Hemdtasche des inzwischen krebsrot angelaufenen Menschen
zwischen die Stufen und mit einem grässlichen Kreischen hören die Stufen endlich,
endlich auf, sich zu bewegen.
Ich knie
mich neben den unglücklichen Mann hin. Er keucht schwer. »Geht es Ihnen gut?«
»Ich – hhh
–«, er pfeift, »Ich – hhh –«
Ich Idiotin!
Der Mann muss befreit werden! Endlich haben andere Menschen bemerkt, dass da etwas
nicht stimmt, und eilen herbei. Von irgendwoher wird mir ein Messer gereicht. Ich
nähere es der Gurgel des nach Luft ringenden Menschen, seine vorquellenden Augäpfel
verfolgen meine Bewegung beinahe beängstigend weit, dann befreie ich ihn endlich
mit einem Ratsch von dem Schlips. Er setzt sich auf, hält sich den Hals und atmet
tief. Es hört sich an wie eine Dampfmaschine. Irrsinnigerweise muss ich an den Lehrer
aus dem alten Film mit Heinz Rühmann denken, ›Feuerzangenbowle‹. ›Wat is ’n Dampfmaschin?
… Nun, da stellen wa uns ma janz dumm …‹
Bist du
noch zu retten?, rufe ich mich selbst zur Ordnung. Meine abwegigen Gedanken kann
ich mir nur mit einem Schock erklären.
»Lassen
Sie mich mal zu dem Mann, ich bin Arzt.«
Ich stehe
auf und rücke zur Seite. Niemand hat den Krankenwagen gerufen! Also ziehe ich mein
Handy hervor und wähle die 112.
»Notrufzentrale
Saarlouis, kann ich Ihnen helfen?«
»Ja, bitte,
kommen Sie schnell her, hier ist ein Mensch verunglückt, auf der Rolltreppe. Er
braucht Hilfe.«
»Wo sind
Sie?«
»Beim Klopfer.«
Ich lege auf, weil ich viel zu durcheinander bin und nachsehen muss, ob der Mann
wieder zu Atem kommt. Nach und nach wird mir klar: Ich bin schuld, dass er gestürzt
ist. Mir wird schlecht. Ich hätte beinahe einen Menschen umgebracht!
»Was ist
passiert?«
»Viel zu
gefährlich, diese Rolltreppen, ich sage es immer wieder.«
»Wer weiß,
wann die zum letzten Mal kontrolliert wurde.«
»Wieso hat
die nicht sofort angehalten?«
»Der Schlips
ist zu leicht, da muss was Festeres in die Walzen geraten, ist ein Manko im System.«
»Geht es
ihm gut?«
»Kommt denn
kein Krankenwagen?«
So reden
alle durcheinander. Ich selbst kann keinen klaren Gedanken fassen. Der Verunglückte
nimmt nach und nach wieder eine gesündere Farbe an. Aber er zittert am ganzen Leib.
Ich versuche indessen, mich zu erinnern, ob ich ihn geschubst habe oder nicht. Muss
ich zur Polizei und ein Geständnis ablegen? War das fahrlässige Tötung?
Nein, er
ist ja nicht tot.
Ich durchforsche
die Gesichter der Gaffer. Wo bleibt der Notarzt? Der Mann, der immer noch neben
dem Dürren kniet, hilft ihm jetzt vorsichtig auf die Beine und begleitet ihn durch
die sich bildende Gasse der Neugierigen zu einem Stuhl, auf den man sich üblicherweise
setzt, um Schuhe anzuprobieren.
»Sie sollten
auf jeden Fall zu einer eingehenderen Untersuchung ins Krankenhaus«, spricht er
auf ihn ein. Dann sieht er mich an. »Und Sie auch. Sie haben sicher einen
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