Bei Tränen Mord: Roman (German Edition)
Überrascht sehe ich ihn an.
Mir war nicht klar, dass er sich darüber eine Übersicht verschaffen kann. »Ich fahr
auch gleich, besuch heute meine Eltern.« Damit meint er das dritte Ehepaar, dem
er als Kind zu Pflege gegeben wurde und bei dem er endlich ein gutes Leben hatte.
Mit ihnen versteht er sich heute noch super und er fährt jeden Freitag zu ihnen.
Da erinnere ich mich, wo das ist.
»Ich fahre
heute nach Riegelsberg, soll ich dich mitnehmen?« Sofort bereue ich mein Angebot,
weil ich damit meine Zeit mit Frank selbst beschneide. Wie bescheuert kann man sein?
Aber gut, jetzt ist es ausgesprochen. Maurice lächelt so glücklich, dass ich versöhnt
bin. »Ich komme dich um zwei abholen«, murmle ich. Dann aber schnellstens hier weg.
Mehr als eine halbe Stunde hat Dürri mir ja nicht geschenkt. Man muss die Gelegenheit
ergreifen, wenn sie sich bietet. Ich schnappe meine Tasche und ziehe Frank an der
Hand hinter mir her zum Fahrstuhl. Nichts wie raus, bevor der Chef es sich wieder
anders überlegt!
»Ich wart
vor der Tür auf dich«, ruft Maurice mir noch nach, ich winke ihm zu, ohne mich noch
mal umzudrehen.
Wir setzen
uns in der Fußgängerzone vor ein Café und trinken Latte macchiato. Daran könnte
ich mich wirklich gewöhnen.
»Ich habe
eine gute Nachricht für Sie«, eröffnet Frank das Gespräch. »Wie sich herausgestellt
hat, hatte Herr Kunze Alkohol im Blut, als er auf der Rolltreppe stürzte. Ein Fremdverschulden
ist nicht nachweisbar, und er spricht dich … Sie von jeglicher Schuld frei. Er bleibt
dabei, dass Sie freundlich zu ihm waren.«
Mir fällt
ein Stein vom Herzen. Damit ist einer dieser komischen Unfälle schon mal von meinem
Konto gestrichen! Noch dazu einer, bei dem ich mir selbst unsicher war, ob ich nicht
doch Schuld hatte.
»Okay …«,
sage ich zögernd. Er betrachtet mich abwartend. Mein Gott, diese Augen! Und die
kleine Narbe! Und das Grübchen, das jetzt leider nicht zu sehen ist, da er ernst
schaut. Er hat sich heute nicht rasiert. Einzelne silberne Bartstoppeln leuchten
zwischen den dunklen. Ach, ich könnte mich an ihn kuscheln und schnurrend seine
Brust kraulen. Ich räuspere mich, um mich selbst wieder ins Hier und Jetzt zu holen.
»Und der Fall Friskeel? Gibt es da neue Erkenntnisse?«
Er beugt
sich vor und greift nach der Zuckerdose in der Mitte des Tisches. Ich lasse meine
Hand wie zufällig so nahe zu seiner rutschen, dass ich ihn beinahe berühre. Er sieht
eine Sekunde hin, nimmt seine Hand aber nicht weg. Ein gutes Zeichen!
»Möglicherweise
haben wir eine Verdächtige. Eine Kollegin scheint sich bei ihm Hoffnungen gemacht
zu haben und erfuhr erst kürzlich, dass er verlobt war. Es soll vor zwei Tagen eine
unschöne Auseinandersetzung gegeben haben.«
Das erleichtert
mich ungemein! Ich weiß ja nicht, ob ich letzten Endes Schuld habe, weil ich dort
oben vielleicht das Türchen offen ließ. Verdammt, wenn ich mich doch nur daran erinnern
könnte! Plötzlich berührt Frank meine Hand. Stehen meine Gedanken wieder so deutlich
in mein Gesicht geschrieben?
»Was ist
los?«, fragt er und lässt seine kühlen Finger einfach liegen.
Ich streiche
mir mit der freien Hand das Haar aus der Stirn. »Ich bin verunsichert. Wenn ich
das Türchen dort oben wirklich habe offenstehen lassen …« Ich beuge mich ebenfalls
vor, meine Hand auf dem Tisch völlig bewegungslos haltend. Zu köstlich ist seine
Berührung. »… dann ist es irgendwo doch meine Schuld, dass er hinuntergestürzt ist.
Ich frage mich manchmal, ob ich unbewusst seinen Tod wollte.« Jetzt, wo ich es ausspreche,
wird mir klar, dass es tatsächlich so ist. Mein Unbewusstes scheint ständig darüber
nachzugrübeln, ob ein Teil von mir all diese Unfälle verursacht hat, um sich zu
rächen. Vielleicht bin ich doch weniger kapitelfest, als ich dachte, und mache manchmal
Dinge, von denen ich am nächsten Tag – ach was, im nächsten Moment – nichts mehr
weiß … Meine extreme Übelkeit gestern bekäme damit eine ganz neue Dimension.
Der zarte
Druck von Franks Fingern holt mich aus meinem Gedankenkarussell heraus. »Das glaube
ich nicht.« Er lächelt, dann zieht er die Hand zurück.
Schade.
»Deine Kolleginnen
haben dich durch die Bank als besonnen beschrieben. Außer zwei Frauen hat niemand
behauptet, dass du zu Jähzorn neigst, Maurice sagte sogar, dass du manchmal weinst,
wenn dich jemand beleidigt hat.«
Ich verschweige
lieber, dass diese Tränen ganz oft meiner Wut entspringen. Die Sekunde der
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