Bei Tränen Mord: Roman (German Edition)
Offenheit
und der Selbstbezichtigung ist vorbei. Wenn Frank an meine Unschuld glaubt, dann
kann ich das ja wohl auch! Außerdem hat er mich soeben ganz selbstverständlich geduzt.
Ich werde das jetzt einfach auch so machen.
»Hast du
irgendwelche Ergebnisse von der Autopsie?«
Er sieht
mich eine Sekunde offen an und schenkt mir den Anblick seines Grübchens. »Die Sektion
hat keine Anzeichen eines Kampfes hervorgebracht. Die Fingerabdrücke oben am Türchen
geben auch noch nicht viel her. Deine sind natürlich dabei, aber viele andere ebenfalls.
In unseren Karteien haben wir keine einzige Übereinstimmung.«
»Aber Selbstmord
war es sicher nicht, oder? Also doch ein Unfall …«
»Er kann
auch ohne großen Kraftaufwand gestoßen worden sein. Wir wissen nicht, ob er alleine
dort oben war. Es könnte sich jemand herangeschlichen haben.«
»Also ist
eigentlich noch alles unklar.«
»Ja, bis
auf die Tatsache, dass besagte Kollegin ein Motiv für einen Mord hätte. – Ich schätze,
du musst los. Dieser Maurice wartet auf dich.« Er zögert. »Erstaunlich, dass dein
Chef jemanden wie ihn beschäftigt.«
»Ja, da
hast du recht. Irgendwo muss er einen guten Kern haben. Maurice ist ihm ans Herz
gewachsen.«
Frank bezahlt,
und gemeinsam eilen wir zurück zum Großen Markt. Ich liebe es, wenn er seine Hand
in meinen Rücken legt, auch wenn es nur für eine Sekunde ist, bevor wir am Eingang
angekommen sind. Ich unterdrücke den Impuls, ihn zum Abschied auf die Wange zu küssen.
Er auch?
»Ich muss
noch einmal mit den Kollegen von Mark Friskeel sprechen. Bis dann.« Weg ist er.
Ich sehe ihm nach. ›Whatta man, whatta man, whatta man, whatta mighty good man …‹
»Lucy, wo
steht denn dein Auto?«, fragt Maurice.
Ich reiße
meinen Blick von der Glastür los, hinter der Frank verschwunden ist. »Dort hinten.
Komm, wir fahren sofort los.«
Eine Dreiviertelstunde später parke
ich hinter einem großen Schuhgeschäft. Maurice verabschiedet sich und geht in Richtung
Marktplatz die Hauptstraße hinauf, während ich den Laden betrete, um herauszufinden,
wo genau der Schuhdoktor seine Praxis hat. Im Geschäft nickt mir die Verkäuferin
angesichts des Schuhkartons unter meinem Arm anerkennend zu. »Blahniks führen wir
leider nicht.«
Ich lächle
sie mit Verschwörermiene an. »Macht nichts. Ich suche nach einem Schuhmacher, der
so etwas wieder hinkriegt.« Ich öffne die Schachtel, sie wirft einen Blick hinein,
seufzt wohlig und schlägt sich dann entsetzt die Hand vor den Mund.
»Wie furchtbar!«
»Ja, nicht
wahr? Wissen Sie, wohin ich muss, um sie abzugeben?«
»Das müsste
unser Schusterhannes sein, der alte Herr Zimmer. Ein Stück die Straße hinauf, auf
der rechten Seite, neben der Saarbahntrasse.« Sie zeigt in die Richtung, in die
eben Maurice verschwunden ist.
Wenige Minuten
später habe ich tatsächlich das winzige Kabuff gefunden, in dem der Schuhmacher
noch nach alter Väter Sitte Schuhe flickt. Ein Duft nach Leder, Gummi und Klebstoffen
umfängt mich, als ich es betrete, und ich fühle mich schlagartig in die Vergangenheit
versetzt. Früher haben wir oft Schuhe zum Reparieren abgegeben, aber seit ich mir
keine teuren Schuhe mehr leisten kann, mache ich das nicht mehr. Da lohnt sich einfach
die Reparatur nicht.
Ein langer
Kerl mit einer Knollennase im zerfurchten Gesicht kommt aus den hinteren Gefilden
zum Tresen und blinzelt mich durch eine altmodische Hornbrille an. Alles an ihm
ist schmutzig, die Hände, die Wangen, die riesige blaue Schürze. Seine Haare stehen
wirr in die Höhe. Sie sind erstaunlich schwarz für ein so faltiges Gesicht. Die
Augen leuchten hell aus dem Dunkel heraus. Umständlich nimmt er eine erloschene
Zigarre aus dem Mundwinkel, in dem sie bisher wie festgepappt hing.
Er nickt
Richtung Schuhkarton. »Ui, Spezialkundschaft«, sagt er, wühlt ein Feuerzeug aus
der riesigen Tasche seines Kittels und zündet unter lautem Paffen den Stumpen wieder
an.
Sofort zieht
herber Rauch in meine Richtung. Ich schlucke trocken. Ich mag es nicht, mit dem
Wort ›Spezialkundschaft‹ belegt zu werden; andererseits kann er ja nicht wissen,
was ich darunter verstehe.
Er deutet
auf den Karton. »Darf ich mal sehen?« Seine Frage kommt als Nuscheln, weil die Zigarre
jetzt wieder im Mundwinkel hängt. Während er spricht, rieseln Aschepartikel herunter.
In mir drängt alles nach Flucht, aber sind die skurrilsten Menschen nicht oft auch
die größten Künstler? Vielleicht ist dieser Stumpen
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