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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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hinterlassen sollen.«
    Es gibt einen Punkt, an dem ein Gebäudebrand so außer Kontrolle gerät, daß man ihn nur noch ausbrennen lassen kann. Dann geht man auf Sicherheitsabstand, möglichst eine erhöhte Stelle, die nicht in Windrichtung liegt, und sieht zu, wie sich das Haus bei lebendigem Leibe selbst auffrißt.
    Jesses Hand hebt sich zitternd, und die Kippe fällt zu Boden, rollt vor unsere Füße. Er legt sich die Hände vors Gesicht, drückt sich die Daumen in die Augenwinkel. »Ich konnte sie nicht retten.« Die Worte werden aus seiner tiefsten Mitte herausgerissen. Er zieht die Schultern hoch, fällt zurück in den Körper eines Jungen. »Wer … wem hast du’s gesagt?«
    Er will wissen, ob die Polizei ihn verhaften wird. Ob ich mit Sara darüber gesprochen habe.
    Er bittet um Bestrafung.
    Und deshalb tue ich genau das, was ihm den Rest gibt: Ich ziehe Jesse, der jetzt haltlos schluchzt, in die Arme. Sein Rücken ist breiter als meiner. Er ist einen halben Kopf größer als ich. Ich erinnere mich nicht mehr, wie der Fünfjährige, der genetisch nicht als Spender in Frage kam, zu dem Mann wurde, der er jetzt ist, und ich vermute, das ist das Problem. Wie kommt einer auf den Gedanken, daß er, wenn er schon nicht retten kann, zerstören muß? Und gibt man ihm die Schuld dafür oder den Menschen, die ihm hätten sagen müssen, daß das nicht stimmt?
    Ich werde dafür sorgen, daß es mit der Pyromanie meines Sohnes ab sofort ein Ende hat, aber ich werde weder die Polizei noch meinen Boß informieren. Vielleicht ist das Begünstigung, vielleicht ist es Naivität. Vielleicht liegt es daran, daß Jesse, der Feuer als Medium gewählt hat, weil er das Gefühl braucht, wenigstens eine unkontrollierbare Sache beherrschen zu können, daß dieser Jesse sich gar nicht so stark von mir unterscheidet.
    Jesses Atem an meiner Schulter wird ruhiger, so wie früher, als er noch klein war und ich ihn nach oben trug, nachdem er auf meinem Schoß eingeschlafen war. Er hat mich immer mit Fragen gelöchert. Wofür nimmst du einen C-Schlauch, wann einen D-Zoll? Wieso wäschst du den Löschwagen? Darf den jeder mal fahren? Mir wird klar, daß ich mich nicht mehr genau erinnern kann, wann er mit dem Fragen aufgehört hat. Aber ich weiß noch, daß mir auf einmal etwas fehlte, als könnte der Verlust der Heldenbewunderung eines Kindes Phantomschmerzen verursachen wie eine verlorene Gliedmaße.
    CAMPBELL
    Mit Ärzten, die als Zeugen vorgeladen werden, ist das so eine Sache: Sie vermitteln mit jeder Silbe, jedem Wort, daß nichts an ihrer Aussage die Tatsache aus der Welt schafft, daß Patienten auf sie warten und Menschen sterben, während sie förmlich unter Zwang im Zeugenstand sitzen. Ehrlich gesagt, stinkt mir das gewaltig. Und ich kann einfach nicht anders, als die Sache irgendwie hinauszuzögern: Ich bitte um eine kurze Pinkelpause, nehme mir Zeit, um einen Schuh zuzubinden, sammele meine Gedanken und fülle Sätze mit bedeutungsschwangeren Pausen – alles nur, um sie noch ein kleines bißchen länger zur Weißglut zu treiben.
    Auch Dr. Chance ist da keine Ausnahme. Er schaut so oft auf seine Uhr, als hätte er Angst, einen Zug zu verpassen. In diesem Fall allerdings ist Sara Fitzgerald genauso darauf aus, ihn möglichst schnell wieder aus dem Gerichtssaal zu bekommen. Denn der Patient, der wartet, der Mensch, der stirbt, ist Kate.
    Aber neben mir strahlt Annas Körper Hitze aus. Ich stehe auf, setze meine Befragung fort. Langsam. »Dr. Chance, waren die Behandlungen, die mit Spenden aus Annas Körper vorgenommen wurden, ›sichere Angelegenheiten‹?«
    Â»Bei Krebs gibt es keine ›sicheren Angelegenheiten‹, Mr. Alexander.«
    Â»Wurden Mr. und Mrs. Fitzgerald darüber aufgeklärt?«
    Â»Wir erklären bei jeder Behandlung ausführlich die Risiken, denn es werden in jedem Fall andere Körpersysteme in Mitleidenschaft gezogen. Der Erfolg einer Maßnahme kann beim nächsten Mal ein Nachteil sein.« Er lächelt Sara an. »Aber dennoch, Kate ist noch sehr jung. Wir hätten nicht gedacht, daß sie älter als fünf wird, und jetzt ist sie schon sechzehn.«
    Â»Dank ihrer Schwester«, stelle ich fest.
    Dr. Chance nickt. »Nicht viele Patienten haben sowohl die körperliche Kraft als auch das Glück, einen

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