Beinah auf den ersten Blick: Roman (German Edition)
weiter, wie ein Hund, der niemals müde wird, einem Stock nachzujagen und ihn zu apportieren. Sie klingelte wieder.
Und wieder.
Und wiiiiieder …
»Ist ja gut, ich komme. Hören Sie auf!« Wasser schwappte, als Abbie aus der Wanne kletterte und sich in ihren Bademantel hüllte. Wenn es Tom war, der seinen Schlüssel vergessen hatte, würde sie ihm die blassblaue Pampe ins Gesicht schmieren, und es würde ihm recht geschehen.
Sie stapfte nach unten und blieb im Flur stehen. »Wer ist da?«, rief sie an der Haustür.
Sie hörte ein »Hallooo, ich bin’s!« und spürte, wie ihr Magen zu Stein wurde.
O Gott. Ohne Vorwarnung. Abbie vergaß, dass sie die Maske aufgelegt hatte. Sie öffnete die Haustür und starrte Georgia an, sehr braun und blonder denn je. Und mit einem mitgenommenen, grauen Koffer zu ihren Füßen.
»Hallo, Abbie! Iiih, schau dich nur an! Dad ist also noch nicht von der Arbeit zurück?«
Georgia wollte sie mit ihrer leichthin formulierten Frage nicht verletzen, aber es war, als würden Fingernägel über eine Schiefertafel kratzen. Die langsam trocknende Gesichtsmaske erwies sich jetzt als sehr praktisch, denn dadurch blieben Abbies Gesichtszüge unbeweglich und ihre wahren Gefühle verborgen. In ihr schrie es: Nein, geh weg, lass uns in Ruhe, und denk nicht einmal daran, diesen Koffer ins Haus zu bringen.
Laut sagte Abbie: »Noch nicht. Weiß er, dass du hier bist?«
»Nein, es ist eine Überraschung! Ich habe ihn heute Nachmittag angerufen und ihm gesagt, ich würde am Strand von Praia de Rocha in der Sonne liegen, und er meinte, da könne ich von Glück reden. Aber da bin ich gar nicht, und wenn er nach Hause kommt, werde ich ›Juhu, ich bin wieder da!‹ rufen.« Georgia strahlte Abbie an. »Das wird toll! Er wird doch bestimmt begeistert sein?«
»Tja, es wird auf jeden Fall eine Überraschung sein.« Wegen des trocknenden Lehms klang es, als würde Abbie durch zusammengebissene Zähne sprechen. Und natürlich konnte sie Georgia nicht davon abhalten, ihren Koffer ins Haus zu bringen. Abbie trat zur Seite, während das Mädchen sein Gepäck über die Schwelle hievte und in den schmalen Flur lief. »Bist du direkt vom Flughafen gekommen?«
»Nein, die letzten zwei Tage waren wir in London. Als ich ging, räumte Mum gerade die Wohnung leer und war am Packen, bevor sie dann nach Portugal zurückfliegt.«
Abbie folgte ihr ins Wohnzimmer. »Warum?«
»Sie macht mal wieder eine ihrer Spontanaktionen. Überraschung, Überraschung.«
Georgia zog ihren Mantel aus und trug darunter ein gestreiftes Top und limonengrüne Shorts. »Wir haben uns deswegen gestritten. Sie hat Christian abserviert, aber jetzt hat sie diesen neuen Typen getroffen, Ted. Ehrlich, wir sprechen hier von einer Frau mittleren Alters. Weißt du, was ich meine? Sie kann doch nicht den Rest ihres Lebens Männern hinterherjagen. Das ist würdelos.«
»Dann lebt Ted auch in Portugal?«
»Lebt und trinkt in Portugal.« Georgia schnitt eine Grimasse. »Und er hat deutlich durchblicken lassen, dass er mich nicht mag. Was mir nur recht ist, denn das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit. Ich war ihnen im Weg, und sie wollten mich los sein. Also sagte ich, kein Problem, dann lebe ich allein in der Wohnung in Paddington, aber dann sagte Mum, sie könne sich die Wohnung nicht leisten, wenn sie nicht selbst dort lebt … also, tja, am Schluss haben wir uns deswegen verkracht.« Georgia betrachtete das Lederarmband an ihrem linken Handgelenk. »Eigentlich haben wir uns sogar ziemlich zerstritten.«
»Ach herrje.«
Georgia sah Abbie an. »Darf ich mir einen Tee machen, wäre das okay?«
»Ja, ja … tut mir leid, das hätte ich dir anbieten müssen.«
»Ist schon gut. Weißt du, es ist komisch, mit dir zu reden, wenn du diese Pampe im Gesicht hast. Warum gehst du nicht nach oben und wäscht dir das blaue Zeugs ab, während ich uns einen Tee aufbrühe?«
Abbie stellte die Frage, die ihr vor allen anderen auf der Zunge lag, nicht. Und Georgia beantwortete sie auch nicht. Stattdessen hing die Frage in den nächsten siebzig Minuten ungestellt über ihren Köpfen, während sie stattdessen über Portugal sprachen, über ihr jeweiliges Weihnachtsfest, darüber, wie ärgerlich es war, dass Pullis an den Seiten immer ausleierten, und wie merkwürdig es doch war, dass manche Menschen beim Anblick von schimmeligem Joghurt würgen mussten, aber fröhlich Blauschimmelkäse aßen.
Im Grunde musste Abbie die Frage nicht stellen, denn sie
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