Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
»Catwalk.« Cunningham verstand den Befehl und trat zur Seite. Er wusste, dass er nichts ins Wachbuch des Insassen eintragen durfte, wenn er dieses Wort hörte. Hernandez wurde ohne schriftlichen Vermerk aus der Zelle entfernt.
Als Private Winston »Win« Croner wie jeden Morgen um 6.00 Uhr zur Wachablösung kam, fand er Cunningham beim Bewachen einer leeren Zelle vor. »Sie haben ihn mitgenommen«, informierte er Croner.
Croner sah sich den letzten Eintrag im Wachbuch an.
»Vergiss es«, sagte Cunningham. »Er ist weg. Mein Befehl lautet warten.«
Also warteten die beiden Männer. Sie hörten den Gebetsruf und die Pledge of Allegiance und später die Trompeten der Veteranenzeremonie vor den Blöcken. Niemand kam und gab Cunningham neue Befehle, und er sah Boy nie wieder. Irgendwann ging er verärgert zurück in die Kaserne und hinterließ Croner das Wachbuch. Am nächsten Tag wurde Cunningham dem Isolierungslager Quebec zugeteilt, wo er unter anderem den Australier David Hicks und Omar al-Shihri bewachte. 76
Im Dezember 2006 veröffentlichte das Pentagon den offiziellen zeitlichen Ablauf des Tages. Dem Dokument ist zu entnehmen, dass Boy pünktlich um 11.00 Uhr in seiner neuen Zelle im Camp Echo ankam.
Camp Echo liegt östlich von Camp Delta und war zeitweise als brutalstes Lager von Camp America berüchtigt. Zu der Zeit, als Boy dort war, diente es jedoch als Haftanstalt für Gefangene, die Besuch von ihren Anwälten, persönlichen Stellvertretern und Vernehmern bekommen sollten. Bei gutem Wetter dauert eine Fahrt mit dem Jeep von Camp Delta zum Camp Echo eine Viertelstunde.
Die Pentagon-Dokumente stimmen nicht mit dem überein, was Cunningham mir erzählte, als wir uns im Herbst 2007 in New York trafen. Nach seinem Einsatz in Guantanamo Bay hatte er die Streitkräfte verlassen und arbeitete seitdem als Männermodel. Cunningham sieht klassisch amerikanisch gut aus, hat beim Lächeln Grübchen und trägt die blonden Haare kurz. Anscheinend konnte Boy seine Nachtwache für die Arbeit in der Modeindustrie begeistern. Er hatte Cunningham einen Agenten der Firma Elite Model Management empfohlen, die ihn jetzt vertritt.
Selbst wenn die Zeitangabe des Pentagons stimmt – dass Boy am elften November um elf Uhr in seiner Zelle im Camp Echo ankam – und Cunninghams Angabe ebenfalls korrekt ist – dass Boy bei ihm um vier Uhr abgeholt wurde –, dann fehlen an diesem Morgen ganze sieben Stunden.
Cunningham spekulierte nicht, was mit Boy in der Zwischenzeit geschehen sein könnte. Er sagt, nach seiner Versetzung ins Isolationslager Quebec habe er nicht mehr an Boy gedacht. Cunningham verwies allerdings auf die gängige Praxis, Geheimverhöre an einem Standort abzuhalten, der nicht auf der Karte verzeichnet war. Auf meine Frage, wer diese Verhöre führe, lachte er: »Dreimal dürfen Sie raten.«
»Das Militär?«, fragte ich.
»OGA. Das ist ein offenes Geheimnis.« 77
OGA ist der Soldatenspitzname für die CIA.
II.
Das Foto von Boy, das der Militärpolizist Lieutenant Richard Flowers in der Nacht von Boys Transport auf dem Rollfeld des Newark Airport aufgenommen hatte, ist mittlerweile ein berühmtes Porträt menschlichen Unrechts. Der unterbelichtete 1.3-Megapixel-Schnappschuss wurde mit einem Samsung LRT-Klapphandy aufgenommen. Boys sichtliche Verzweiflung auf dem Bild ist verstörend. Sein Haar ist plattgedrückt, er ist schweißnass, sein Gesicht hager und die Augen schmal vor Schlafentzug. Sein weißer Hemdkragen ist gelblich gefleckt, vielleicht von Schweiß, vielleicht von Erbrochenem. Es dauerte mehrere Monate, bis das Foto endlich auftauchte, doch dann war Boys Geschichte, die der Öffentlichkeit bisher nur als kurzlebige Broadway-Satire über eine charakterlose Wohlstandsgöre und einen Boy vage nachempfundenen Modedesigner-Terroristen bekannt war, wieder auf den Titelseiten.
Die Veröffentlichung des Fotos erklärt auch, warum Colonel Albert T. Windmaker, der Kommandant der Guantanamo Bay Naval Base, auf den letzten Seiten von Boys Bekenntnis auftaucht. Windmaker war dafür bekannt, dass er sich bei den Insassen nur blicken ließ, wenn es Probleme in den Blöcken gab oder ein hochrangiger Gast die Basis besuchte. Es ist ganz offensichtlich, und der Colonel hat es auch selbst zugegeben, dass er Boy nur besuchte, weil die Mediensituation in den USA schwierig wurde. Keine vierundzwanzig Stunden nach Windmakers Besuch bei Boy verschwand dieser auf unbestimmte Zeit.
Aus welchem Grund Lieutenant
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