Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Flowers am 31. Mai 2006 das Foto von Boy aufnahm, ist nach den unzähligen politischen Stellungnahmen und Entschuldigungen beider Beteiligten kaum noch herauszufinden. Das Ende von Boys Tagebuch legt nahe, dass Flowers seinen Gefangenen demütigen wollte. Stattdessen ist dieses Bild ein Symbol all dessen geworden, was in Amerika seit dem 11. Januar 2002 schiefgelaufen ist, dem Tag, als das Gefängnis in Guantánamo Bay seine Pforten öffnete. Boys Porträt bedrückt den Betrachter noch mehr als die Bilder, die uns bisher verfolgten. Die der Männer in orangefarbenen Uniformen, die im Schotter knien, Augen und Ohren bedeckt. Flowers dagegen hat den Geschundenen ein Gesicht gegeben, und zwar das eines aufstrebenden Modedesigners.
Wenige Tage nach der Veröffentlichung des Fotos bearbeitete der Künstler Sheriff Michaels es in gedeckten Rot-, Weiß- und Blautönen – »cartoonifizierte« es, wie er es nennt (dieser Prozess dauert nur wenige Minuten). Mit dem gestempelten Schriftzug GEHORCHT im unteren Teil des Bildes wurde es zum traurigen Aushängeschild des Jahrzehnts. Während Boys lange verschobenes CSRT endlich begann, verbreitete sich das GEHORCHT-Bild mit rasender Geschwindigkeit. Es wurde mit Schablonen auf Hauswände und Bauzäune überall in New York City, Miami, Chicago, Portland, Seattle, St. Louis gesprüht. Selbst in Tallapoosa, Missouri, wo der Hernandez-Skandal ironischerweise erst fünf Monate zuvor für einen mittelschweren Aufruhr gesorgt hatte. 78 GEHORCHT war das Gegenteil dessen, was Boy (der Mensch) für die Regierung bedeutet hatte. Hernandez, der Fashion Terrorist, einst der stolz vorgezeigte große Fang im weltweiten Krieg gegen den Terror, war jetzt zum Märtyrer der Gerechtigkeit geworden.
III.
Als ich anfing, Nachforschungen zu Boy Hernandez’ Haft anzustellen, verweigerten Guantánamo und das Pentagon jeden Kommentar. Auch seitens der Pressestelle des Weißen Hauses rief mich niemand zurück. Ehrlich gesagt nahm mich als Modejournalist überhaupt niemand ernst (woran ich allerdings gewöhnt bin). Nicht einmal die Zeitschrift W war bereit, meinen Folgeartikel über Boy und seine unbefristete Gefangenschaft zu drucken. Selbst wenn es um einen hochgeschätzten Designer ging, der vor kaum einem Jahr die Seiten des Magazins zierte, war das Thema dem Chefredakteur viel zu politisch. Auch keine andere größere Modezeitschrift, die ich kontaktierte, wollte das Projekt unterstützen. Ich hatte mir vorgenommen, richtigen investigativen Journalismus zu betreiben, etwas ganz anderes als meine üblichen aufgedrehten Modeartikel. Vielleicht war in mir endlich der politische Geist erwacht. Mehr noch, die Story ging mir persönlich sehr nahe – als ich von Boys Verhaftung erfuhr, war mir, als wäre unerwartet ein Freund gestorben. Und tatsächlich, als ich mit meinen Recherchen begann, schien es, als hätte sich die Modewelt bereits mehr oder weniger mit Boys Tod abgefunden.
Als die GEHORCHT-Bewegung in Fahrt kam, wurde Boys Sache schließlich von der Mainstream-Presse übernommen, bei der ich keinerlei Einfluss oder Verbindungen hatte.
Aber ich blieb hartnäckig, und schließlich meldete sich Ende Dezember 2006 von einer Telefonzelle in Miami aus ein Soldat bei mir – nicht Jeffrey Cunningham. Dieser Soldat, nennen wir ihn Coco, war bereit, mit mir zu sprechen, wenn er anonym bleiben konnte. Ich nahm sofort das nächste Flugzeug nach Miami.
IV.
Im Camp America gibt es laut Coco einen weißen Lieferwagen mit abgedunkelten Scheiben. Viele der Wachen nennen ihn die »Mystery Machine«, nach dem Wagen aus den Scooby-Doo-Zeichentrickfilmen. Im Inneren befindet sich ein Käfig, in den ein einzelner Gefangener passt. Unter den Wachen ist es ein offenes Geheimnis, dass die Mystery Machine sich frei durch Camp America bewegt und Insassen wie CIA-Agenten ohne Vermerk an den verschiedenen Kontrollpunkten vorbeitransportiert.
Wahrscheinlich wurde Boy am 11. November um 4.00 Uhr mit diesem Wagen abtransportiert, nachdem die Militärpolizisten ihn bei Cunningham abgeholt hatten. Er wurde jedoch nicht direkt ins Camp Echo gefahren, wie das Pentagon behauptet, sondern in eine Anlage im Norden außerhalb von Camp America, die manche Camp No nennen. Das ist natürlich kein offizieller Name – die Regierung bestreitet die Existenz von Camp No. Doch Coco und zwei andere Wachen, die sich bei mir gemeldet haben, bleiben dabei: Camp No existiert, und Boy wurde dort nicht nur sieben Stunden, sondern ganze sieben
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