Bel Ami
Hummer, Langusten, Wild und flambiertes Obst auffahren, dazu den teuersten Wein, den ich finden konnte. Wie im Märchen, schwelgte Simone und sah mich mit großen Augen an. Der Wein verscheuchte die anfängliche Zurückhaltung, und die beiden ließen es sich richtig schmecken. Ich konnte es nicht verübeln und gönnte ihnen die Freude, die mir selbst schon lange abhanden gekommen war. Nach dem Essen wollten sie alles über mich wissen. Jede Episode meines Lebens schien sie zu begeistern, sie gierten nach meinen Auslandserfahrungen, meinen Abenteuern und Geschichten. Ich ließ neuen Wein kommen und legte los. Das Leben, das ich seit meiner Flucht aus Ostberlin gelebt hatte, war so aufregend und abwechslungsreich, dass ich tagelang erzählen konnte, ohne meine Zuhörer zu langweilen. Ich redete schon drei Stunden, als ich bemerkte, dass Jürgen ruhiger geworden war und nicht mehr mich, sondern nachdenklich seine Hände anschaute.
»Ich wünschte, mir wäre die Flucht damals auch gelungen.«
Es war plötzlich still am Tisch geworden. Nicht nur Simone blickte ihren Vater überrascht an. Jürgen redete über dieses Thema sonst nie.
Jürgen trank das halbe Glas in einem Zug leer und begann den Ring an seinem Finger zu drehen.
»Sie war meine erste große Liebe, und ich wäre für sie durch die Hölle gegangen. Na, das bin ich dann ja auch.«
Er trank einen Schluck und redete weiter, ohne uns anzuschauen.
»Wir hatten die Sache schon Wochen vorher geplant und mit keinem darüber geredet – jedenfalls ich nicht. Wir wollten nur einen kleinen Rucksack mitnehmen, alles andere zurücklassen. Wir hatten ja uns. Es war kurz vor Mitternacht, den Rucksack hatte ich auf dem Rücken, und ich war auf dem Weg zu ihr. Als ich hinter mir meinen Namen hörte, wusste ich sofort, was los war. Jemand hatte uns verraten. Plötzlich war die Straße voller Bullen. Der Lada, der schon seit zwei Tagen vor meiner Wohnung gestanden hatte, schaltete die Scheinwerfer ein. Ich war wie gelähmt. Ich hatte Angst – das Undenkbare war geschehen: Ich war als Republikflüchtling entlarvt. Ich wurde ins Auto gestoßen und nach Alt-Hohenschönhausen gebracht. Eine Woche später nach Bautzen. Da bin ich erst drei Jahre später wieder rausgekommen. Wisst ihr, was weiße Folter ist?«
Jürgen schaute hoch und uns in die Augen.
»Willst du noch einen Schluck?«
Ich hielt ihm die Flasche entgegen. Jürgen schien der Monolog erschöpft zu haben. Er sah plötzlich alt aus. Müde schüttelte er den Kopf.
»Ist spät geworden. Ich werd mal gehen. Danke für den schönen Abend, Detlef. Ehrlich!«
Er erhob sich schwerfällig und ließ uns allein.
»Was meinte er mit weißer Folter?«
»Keine Ahnung. Mein Vater redet nie über dieses Thema, jedenfalls nicht mit uns Kindern.«
Irgendwie drohte der Abend zu kippen. Also ergriff ich die Initiative:
»Lust, noch ein bisschen tanzen zu gehen?«
Sie war jung und voller Energie. Die besten Vorraussetzungen, um nicht lange Trübsal zu blasen.
Ich führte Simone in die beste Disco der Stadt, und wir tanzten, bis sie müde war. Ich war 22 Jahre älter als sie, kannte aber ein paar Methoden, um mir die Müdigkeit vom Leib zu halten. Schließlich hatte ich noch einiges vor. Ich lud sie in mein Zimmer ein, ließ Kaviar, Lachs und Champagner kommen und bot ihr als Abschluss etwas Koks an. Sie lehnte ab. Das war mir ja noch nie passiert! Sie wollte reden . Was hatte ihr Jürgen über mich erzählt? Dass ich Blumen verkaufte? Sie setzte sich im Schneidersitz auf die Couch und fing an, übers Backen zu reden. Ich konnte es nicht fassen. Alles lief völlig anders, als ich es gewohnt war. Da wollte ich wenigstens etwas Normales tun: Ich zog mir was rein. Und kam mir gleich darauf total bescheuert vor. Simone war bei Marzipanrohmasse angekommen. Sie würde ja so gern mal nach Mailand fahren, um den Marzipanbäckern zuzuschauen oder nach Wien zu den Hofkonditoren. Ein eigenes Café würde sie irgendwann haben wollen, in dem es selbst gemachte Schokolade geben würde und winzige Torten, damit man auch mehrere probieren könne. Ich saß ihr gegenüber und hörte ergeben zu. Als sie morgens um fünf in ihr Zimmer ging, hatten wir über Backzutaten geredet, meine Lieblingsbar in Friedrichshagen, ihren Vater, das jährliche Müggelseeschwimmen, die Backsteinschule – die wir beide besucht hatten, einen alten Lehrer, der uns beide unterrichtet hatte, über ihren Hund und wie sehr ich mir selbst als Kind einen gewünscht hatte,
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