Belgarath der Zauberer
Wie kommt es, daß mir das noch nie aufgefallen ist?« »Ich meine es ernst, Pol. Was wir ›Talent‹ nennen, zeigt sich bei jedem von uns auf unterschiedliche Weise. Beldin kann Dinge vollbringen, die ich niemals in Angriff nehmen würde, und die anderen haben ebenfalls ihre Spezialgebiete. Ich kann dir nur ein Grundwissen vermitteln, dann bist du auf dich allein gestellt, und dein Talent wird sich entwickeln. Die Leute reden von ›Zauberei‹, aber das meiste, was darüber gesagt wird, ist purer Unsinn. Was es wirklich ist – was es sein kann –, ist in den Gedanken, und jeder von uns denkt anders. Das habe ich damit gemeint als ich sagte, daß du auf dich allein gestellt sein wirst.«
»Warum werde ich dann lesen müssen? Wenn ich so einzigartig bin, was können mir deine Bücher dann nützen?«
»Es ist eine Abkürzung. Egal, wie lange du lebst, du wirst nicht die Zeit haben, jede Schlußfolgerung zu überdenken, die je gemacht wurde. Deshalb lesen wir – um Zeit zu sparen.«
»Wie kann ich denn wissen, welche Gedanken richtig sind und welche nicht?«
»Das kannst du nicht – nicht zu Anfang. Es wird dir leichter fallen, zu unterscheiden, je mehr du lernst.«
»Aber das wird dann nur meine eigene Meinung sein.«
»Ja, so funktioniert das.«
»Und wenn ich mich irre?«
»Dieses Risiko mußt du eingehen.« Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück. »Es gibt nichts Allgemeingültiges, Pol. Das Leben wäre dann einfacher, aber leider geht das nicht.«
»Jetzt habe ich dich, alter Mann«, sagte sie voll streitbarer Leidenschaft. Polgara liebt interessante Streitgespräche. »Es gibt Dinge, die wir sicher wissen.«
»Ach? Sag mir eines.«
»Die Sonne wird morgen wieder aufgehen.«
»Warum?«
»Weil es immer so war.«
»Bedeutet das auch, daß es immer so sein wird?«
Sie wirkte ein wenig bestürzt »Das wird sie doch, nicht wahr?«
»Vermutlich, aber wir können uns dessen nicht vollkommen sicher sein. Wenn du etwas für vollkommen wahr hältst, hast du deine Gedanken dafür verschlossen, und verschlossene Gedanken führen zu nichts. Stelle alles in Frage, Pol. Darum geht es bei der Erziehung.«
»Das kann länger dauern, als ich dachte.«
»Ja, vielleicht. Sollen wir jetzt anfangen?«
Pol braucht Gründe für die Dinge, die sie tut. Als sie begriffen hatte, warum Lesen so wichtig war, erlernte sie es in überraschend kurzer Zeit, und je mehr sie las, desto besser wurde sie. Ich kann vermutlich schneller lesen als die meisten, denn ich erfasse die Bedeutung einer ganzen Zeile mit einem Blick. Pol nimmt ganze Kapitel auf dieselbe Weise auf. Wenn ihr je die Gelegenheit habt, meine Tochter beim Lesen eines Buches zu beobachten, dann laßt euch nicht täuschen, wenn es den Anschein hat, als würde sie nur die Seiten durchblättern. Das stimmt nicht. Sie liest jedes einzelne Wort. Sie brauchte kaum länger als ein Jahr, um sich durch meine Bibliothek zu lesen. Dann stürzte sie sich auf Beldins Bücher – das war gewiß die größere Herausforderung; denn Beldins Bibliothek war zu dieser Zeit wahrscheinlich die umfangreichste überhaupt.
Unglücklicherweise streitet Polgara mit Büchern – laut. Ich war mit eigenen Studien beschäftigt, und es ist ziemlich schwierig, sich zu konzentrieren, wenn ein steter Schwall von Ausrufen wie ›Unfug!‹, ›Schwachsinn!‹ oder ›Geschwätz‹ von den Dachbalken widerhallt.
»Lies leise!« wies ich sie eines Abends zurecht.
»Aber Vater«, gurrte sie, »du hast mir dieses Buch empfohlen; deshalb wirst du wohl auch glauben, was darin steht Ich will dir nur nahelegen, Ausweichmöglichkeiten in Betracht zu ziehen.«
Wir diskutierten über Philosophie, Theologie und naturwissenschaftliche Themen. Wir stritten über Logik und Gesetz. Wir schrien uns an, als wir über Ethik und vergleichende Moral diskutierten. Ich kann mich nicht daran erinnern, je zuvor so viel Spaß gehabt zu haben. Sie bedrängte mich, wo es nur möglich war. Wenn ich versuchte, die Erfahrung des Alters mit einzubringen, um meinen Standpunkt zu untermauern, fand sie genau die Schwachstelle in meiner windigen Prahlerei. Theoretisch unterrichtete ich sie; aber ich lernte dabei fast ebensoviel.
Oft kamen die Zwillinge, um sich zu beschweren. Pol und ich haben tragfähige Stimmen, und je länger ein Streitgespräch dauert desto lauter werden wir. Die Zwillinge wohnten in der Nähe; und so mußten sie alles mit anhören - obwohl sie keinen Wert darauf legten.
Ich war außerordentlich
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