Belial
Mutter, er würde die alten Bande zerstören. Er würde nur an sich selbst denken, denn der große Luzifer sollte merken, daß er ihn nicht grundlos geschickt hatte.
Belial – Luzifers Diener, Luzifers Leibwächter. Einer aus der ganz alten Zeit, in der an Menschen noch nicht zu denken war. Aber die Menschen waren entstanden, sie hatten sich vermehrt, sie gingen zum Großteil ihren eigenen Weg und kümmerten sich einen Dreck um die Dinge, mit denen damals alles begonnen hatte.
Zur Lüge gehören auch der Tod und die Verdammnis. Belial liebte beides, und er würde auch dafür sorgen, daß sie ihn anbeteten. Die Lüge würde für sie alle zur Wahrheit werden. Die alten Regeln waren überholt. London!
Er sah die Stadt mit seinen besonderen Augen. Er sah sie verkleinert wie auf einer großen Panoramakarte vor sich liegen. Ein weites Gebiet, über dem der Himmel allmählich grau wurde, weil sich die Dämmerung heranschlich.
Die Stadt, dieser lebendige, quirlige Moloch, lag vor ihm. Belial stöhnte, er hielt sich abseits, aber er wollte nicht mehr am Boden stehen, sondern hineinschweben in den grauen Himmel.
Belial war ein Engel. Ein Wesen zwischen den Fronten. Nicht erklärbar, aber mit einer menschlichen Gestalt vergleichbar.
Plötzlich schwebte ein riesiger, grauer Vogel durch die Luft, trieb mit mächtigen Flügelschlägen der Dämmerung und den Wolken entgegen, war einfach nicht zu halten und glitt über den Boden hinweg wie ein großer Schatten.
Er hätte auch normal nach London hineingehen können, das aber war nicht möglich. Zu viele Hindernisse hatten sich aufgebaut, die Welt war längst nicht mehr so wie bei ihrer Entstehung. Hier ging alles anders, hier hatten sich die Menschen die Regeln geschaffen, nach denen sie lebten. Er sah es von oben. Er schaute auf die Häuser, er blickte hinein in die Schluchten der Straßen, er sah die Autos, die Lichter, und er sah auch die Menschen, die sich nicht in ihren Häusern aufhielten. Alles war so fremd für ihn, gleichzeitig aber sehr bekannt.
Ein Lächeln huschte über sein graues Gesicht. Niemand hatte ihn gesehen, niemand würde ihn sehen, wenn er hoch über den Dächern dahinschwebte. Es gab keinen Grund, ihn anzuschauen. Er war nicht zu hören, er glitt dahin wie ein langer Schatten und bewegte seine Schwingen kaum.
Einer, der durch die Wolken floß, der von ihnen wie von Wasserstreifen umschmeichelt wurde. Sie glitten an ihm entlang, sie waren wie Schleier, und zwischen ihnen lagen oft genug die klaren Inseln, die einen Blick in die Tiefe gestatteten.
Künstliches Licht kämpfte gegen das Herannahen der Dunkelheit an, ohne sie jedoch besiegen zu können. Es gab keine Chance, es war alles anders geworden. Die Finsternis würde siegen, und auch er würde sich mit der Finsternis verbünden.
Nicht nur das: Er war die Finsternis!
Es tat Belial gut, so zu denken. Seine dünnen Lippen lächelten. Der Vergleich gefiel ihm.
Er war die Finsternis!
Er würde die Dunkelheit in die Seelen der Menschen hineinbringen, und dafür sorgen, daß die Lüge zur Wahrheit wurde.
Seine Wahrheit zählte, alles andere war uninteressant geworden. Es gab nur seine Wahrheit, die der alten Zeit.
Er spürte den Wind. Sein Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. Der Wind war gut, er brachte ihm die Botschaft mit, die ihm gefiel. Der Geruch der Menschen, ihre Ausstrahlung, die in ihm den Hunger nach Seelenkraft hochtrieb.
Da kam einiges zusammen, das ihm Freude bereitete. Wunderbare Welt, seine Welt würde es werden. Alles würde sich ändern. Sie würden ihm gehorchen, und er würde dem großen Luzifer die Welt und die Menschheit zu Füßen legen.
Belials Lächeln verschwand. Urplötzlich nahm sein Gesicht einen harten, einen lauernden Ausdruck an. Die Augen funkelten in mehreren Farben zugleich. Über seine nackte Gestalt zog sich ein Schauer hin, denn etwas Furchtbares drängte von unten hoch und erreichte ihn wie eine düstere Botschaft.
Da war was…
Er flog weiter, aber er war jetzt auf der Hut. Sein Interesse galt einzig und allein dem anderen aus der Tiefe. Es strömte hoch, es war nicht zu riechen oder…
Belial war verwirrt.
Er schüttelte sich, flog jetzt Kreise und schaute weit über die Stadt hinweg. Seine scharfen Augen suchten den Himmel ab. Er wußte plötzlich, daß in dieser Weite nicht nur die Wolken wie lange Schatten lagen, sondern auch etwas anderes sich ausbreitete.
Eine Botschaft…
Ahnten die Menschen etwas? War ihnen bewußt geworden, daß er sich
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