Bell ist der Nächste
es irgendeinen Grund anzunehmen, dass sie noch am Leben war? Sie stellte eine Gefahr dar, wegen der Dinge, die sie von Terry Dawtrey und Henry Kormoran erfahren hatte. Ich hatte mich selbst glauben gemacht, dass sie sie zumindest noch für eine Weile am Leben lassen würden. Sie würden Fragen haben: Wie viel wusste sie wirklich? Hatte sie handfeste Beweise?
Es war nicht sehr wahrscheinlich, wenn ich jetzt darüber nachdachte. Irgendwelche Fragen, die sie vielleicht hatten, konnten inzwischen beantwortet sein. Es gab keinen Grund, sie länger als nötig gefangen zu halten. Aber ich wollte, dass es so war. Ich wollte glauben, dass es irgendwo eine Tür gab, hinter der sie wartete. Darauf wartete, dass ich sie fand.
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Auch am Freitagmorgen wurde Lucy Navarro noch vermisst. Anthony Lark war weiterhin auf der Flucht.
Callie Spencer wurde in einer Sendung des Frühstücksfernsehens zugeschaltet und live interviewt. Ich schlief aus und verpasste die Sendung, sah sie mir aber später im Internet an.
Das Interview konzentrierte sich auf Lark, dessen Geschichte von Reportern recherchiert worden war, die mit seiner Mutter und seinen ehemaligen Freunden gesprochen hatten. Es entstand das Bild eines gequälten Mannes, den sein irregeleitetes Gerechtigkeitsgefühl hatte gewalttätig werden lassen. Dass im Zentrum der Geschichte ein hübsches Mädchen stand, half zudem – jemand hatte ein Video von Lark und Susanna Marten auf ihrem Highschool-Abschlussball aufgetrieben, Susanna in einem blauen Kleid und mit aufgestecktem Haar, die lachend in die Kamera winkte.
Susanna Martens Geschichte sei leider nicht ganz selten, sagte Callie Spencer dem Interviewer. Eine junge Frau voller Hoffnungen, die Opfer häuslicher Gewalt werde. Als Staatsanwältin sei Callie vielen Frauen wie ihr begegnet. Sie wisse um den Schaden, den häusliche Gewalt anrichten könne, bei den Opfern, ihren Freunden und Familienmitgliedern.
Callie sagte, sie verspüre Sympathie für Lark, verstehe seine Frustration angesichts dessen, was Susanna widerfahren sei – obwohl sie seine gewaltsame Reaktion natürlich verurteile. Sie sei traurig, dass sich Lark an ihre eigene, Callies, tragische Familiengeschichte angehängt und seine Wut auf die Männer gerichtet habe, die vor siebzehn Jahren die Great Lakes Bank überfallen hätten. Sie schien zudem stillschweigend vorauszusetzen, dass Lark für den Tod von Walter Delacorte verantwortlich war, den sie als engen Freund ihres Vaters beschrieb.
Erst am Ende des Interviews erwähnte der Reporter, dass Lark vor dem Winston Hotel auf mich (»einen ortsansässigen Redakteur«) geschossen habe – und dass Lucy Navarro ungefähr zur gleichen Zeit verschwunden sei. Callie verlieh ihrem Wunsch Ausdruck, dass man Lucy bald unverletzt finden möge, und die Zuschauer blieben mit dem Eindruck zurück, dass Lark sie entführt hatte.
Als ich mir das Interview anschaute, musste ich Callies Auftritt einfach bewundern. Leute, die sie sahen, würden die Einzelheiten vergessen, aber sie würden sich daran erinnern, wie nachdenklich und entschlossen Callie Spencer gewirkt hatte. Sie würden vielleicht Anthony Larks Namen vergessen, aber sie würden sich daran erinnern, dass die Welt ein gefährlicher, unsicherer Ort war und dass Callie den aufrichtigen Wunsch hegte, sie sicherer zu machen.
Lark sah Callie Spencers Interview auf einem 13-Zoll-Fernsehbildschirm in einem Hotel in South Bend, Indiana.
Als er das Video von Susanna Marten beim Abschlussball sah, dachte er, sein Herz bliebe stehen. Er hatte seine Erinnerungen an sie fast schon verloren, er hatte sie im Haus seiner Mutter zurückgelassen. Aber die Bilder im Fernsehen brachten alles wieder zurück. Sie war real und lebendig gewesen, und er war mit ihr zusammen gewesen.
Dieser Gedanke war ihm schon oft durch den Kopf gegangen, das erste Mal an einem Abend vor drei Jahren im Gästezimmer im Haus ihres Vaters. Das Bett war mit weißen Laken bezogen gewesen, und Susanna hatte darauf gelegen, die Beine waren nackt und an den Knöcheln übereinandergeschlagen gewesen. Die Hände hatte sie auf dem Bauch gefaltet gehabt. Die Lippen waren geöffnet, der Blick war starr. Ein leeres Fläschchen neben ihr. Er kniete am Bett und weinte und dachte, dass sie noch vor ein paar Stunden lebendig und er mit ihr zusammen gewesen war.
Jetzt saß er in dem Hotelsessel, verspürte einen Schmerz in der Brust und lauschte mit einem Ohr den Worten Callie Spencers. Sie war mit ihm nicht
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