Bell ist der Nächste
hat versucht, ihn anzurufen, und hat ihn nicht erreicht. Deshalb ist sie heute hierhergekommen und hat den Hausmeister überredet, sie hereinzulassen. Sie hat die Leiche gefunden.«
»Was ist sie für ein Typ?«
»Ein echter Hingucker – ich glaube, die hat die beste DNA in der Kormoran-Familie abbekommen. Ein bisschen kühl. Ich konnte keine einzige Träne sehen. Ich habe ihren Namen und ihre Telefonnummer. Sie weiß, dass sie eine Aussage machen muss.«
Elizabeth nickte. »Gut. Bist du hier fertig?«
»Ja. Warum?«
»Ich könnte etwas bessere Luft gebrauchen.«
Sie sah zu, wie Shan die Kamera in eine Tasche an seinem Gürtel schob, und dann gingen die beiden durch die Diele zum Wohnzimmer. Elizabeth atmete tief ein und sah sich um. Bemerkte etwas, das ihr vorher nicht aufgefallen war: Vier kleine Klebstreifen an der Wand über dem Kamin.
Sie kniete sich hin, um das Foto auf dem Fußboden zu betrachten. Henry Kormoran, neun oder zehn Jahre alt, der mit seinem Ball und seinem Baseballhandschuh posierte. Neben ihm ein Mann mit einem freundlichen Lächeln, wahrscheinlich sein Vater. Sie hatte das seltsame Gefühl, dass sie dieses Bild schon einmal gesehen hatte, dass sie den Namen »Henry Kormoran« erkennen sollte.
An der Wand befanden sich vier Klebstreifen, nur zwei davon hatten dieses Foto befestigt.
»Wo ist das andere Bild?«, sagte Elizabeth laut.
Shan hatte schon angefangen, danach zu suchen. Sie sah, wie er etwas zwischen den Sofakissen hervorzog. Sie erhob sich wieder und sah über seine Schulter.
Es war die gedruckte Reproduktion eines Ölgemäldes. Das Porträt einer Frau von Mitte zwanzig. Dunkle Augen, gebräunte Haut, langes schwarzes Haar, das in der Mitte gescheitelt war.
»Oh«, sagte Elizabeth gedehnt.
»Wer ist das?«, fragte Shan.
»Das weißt du nicht?«
»Gib mir einen Tipp.«
»Inzwischen ist sie schon älter. Trägt ihr Haar jetzt kürzer. Hier lächelt sie nicht, aber wenn sie es tut, siehst du eine ganze Reihe weißer Zähne.«
»Gib mir noch einen Tipp.«
Elizabeth nickte zu dem stummen Fernseher hinüber. Irgendwelche Leute quasselten vor sich hin.
»Bleib auf CNN, und du wirst sie unweigerlich zu sehen kriegen«, sagte Elizabeth. »Sie war dort in letzter Zeit häufig zu sehen.«
»Callie Spencer?«
»Callie Spencer. Die zukünftige junge Senatorin aus dem Staate Michigan. Wenn man den Umfragen Glauben schenken darf.«
Shan legte das Foto auf das Sofakissen. »Was hat sie mit Kormoran zu tun?«
»Man könnte sagen, dass er mitgeholfen hat, ihre politische Karriere anzuschieben.«
Der Himmel war immer noch hell, als Elizabeth zur City Hall fuhr. Carter Shan war noch in Kormorans Wohnung geblieben und bewachte den Tatort, bis Lillian Eakins kam, um die Leiche abzuholen.
Elizabeth nahm einen Umweg, weil etliche Straßen für den Markt abgesperrt worden waren. Sie kontrollierte ihr Handy, während sie fuhr, und sah, dass sie eine Nachricht von David bekommen hatte, beschloss aber, dass er warten konnte. Sie rief Owen McCaleb an, den Polizeichef von Ann Arbor, um ihm Bescheid zu geben, dass sie auf dem Weg war. Er und einige andere Detectives von der Ermittlungsabteilung hatten bereits begonnen, die Fakten über den Fall Henry Kormoran zusammenzutragen.
Darauf lief es bei einer Mordermittlung letztlich hinaus – Einzelheiten in einem Fall, einer Geschichte, die sich allmählich herausschälte. Und die Einzelheiten wurden bereits gesammelt: alte Zeitungsartikel, die man aus dem Internet fischte, gefaxte Verfahrensakten von den Behörden im Chippewa County.
Sie erzählten die Geschichte von Henry Kormoran. Elizabeth kannte nicht jedes Detail, aber sie hatte schon mal davon gehört. Es war die Geschichte eines Bankraubs, der siebzehn Jahre zurücklag.
An einem trostlosen Oktobermorgen waren fünf Männer in einem schwarzen Geländewagen zur Great Lakes Bank in Sault Sainte Marie gefahren. Der Fahrer wartete draußen. Die anderen vier gingen hinein, mit Handschuhen, Sturmhauben und Seesäcken, um die Beute abzutransportieren. Floyd Lambeau, Sutton Bell, Terry Dawtrey, Henry Kormoran. Lambeau war der Anführer; er hatte ein doppelläufiges Gewehr. Die anderen hatten Handfeuerwaffen.
Sie wollten einen richtig fetten Fang, wollten vor allem, was im Tresor war. Das Geld aus den Casinos.
Sie rannten lärmend hinein und zwangen die Kunden und die Bankangestellten, sich auf den Boden zu legen. Dawtrey, der Lambeaus Befehlen gehorchte, zerrte den Filialleiter nach hinten,
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