Bell ist der Nächste
von Dawtreys Waffe.
Die erste Kugel schlitzte Spencers Uniformärmel auf. Die zweite traf seine linke Schulter und wirbelte ihn herum. Die dritte schlug in seinem Rückgrat ein.
Es fielen noch drei weitere Schüsse, die ihr Ziel jedoch verfehlten. Aber Harlan Spencer lag schon hingestreckt auf der Straße. Er blieb lange genug bei Bewusstsein, um zu spüren, wie die Hände seines Deputys ihn vorsichtig auf den Rücken drehten. Lange genug, um zu sehen, wie Terry Dawtrey niedergestreckt wurde, als er nach Sutton Bells Revolver griff. Lange genug, um zu merken, dass er kein Gefühl mehr in den Armen und Beinen hatte.
Es bedurfte monatelanger Behandlungen, bis Spencer seinen rechten Arm und die Hand wieder benutzen konnte. Sein linker Arm erholte sich nie wieder vollständig. Seine Beine blieben gelähmt.
Seine damals dreiundzwanzigjährige Tochter unterbrach ihr Jurastudium an der University of Michigan, um ihn zu pflegen, kehrte dann an die Universität zurück und schloss ihr Studium mit Bestnote ab. Callie Spencer arbeitete sieben Jahre als Staatsanwältin für das Washtenaw County und hatte in dieser Zeit mit Fällen der schlimmsten häuslichen Gewalt zu tun. Als sie beschloss, für das Repräsentantenhaus von Michigan zu kandidieren, hatte sie einen erstklassigen Lebenslauf aufzuweisen: Anwältin für geschlagene Frauen und missbrauchte Kinder und zudem Tochter eines heldenhaften Polizisten.
Sie diente zwei Legislaturperioden im Repräsentantenhaus von Michigan, und sie hätte auch eine dritte absolvieren können, wenn sie gewollt hätte, aber dann verkündete der greise John Casterbridge seinen Rückzug aus dem amerikanischen Senat. Und nach einer harten Vorwahl sah es so aus, als wäre Callie Spencer auf dem besten Weg, seine Nachfolgerin zu werden.
Elizabeth parkte an der City Hall und ging die Stufen vor dem Gebäude hinauf. Sobald sie die Eingangshalle betrat, erblickte sie einen Mann, der sich in diesem Moment von einer Bank erhob. Ganz in weißem Leinen, als käme er gerade von einem Segelboot.
»David«, sagte sie.
Sein kupferfarbenes Haar hatte sich in der Sommerhitze gelockt. Er grinste ein wenig, aber gleichzeitig wirkte er sehr ernst. »Ich weiß, dass du es lieber hast, wenn ich nicht hierherkomme«, sagte er.
Sie widersprach ihm nicht. »Ist alles in Ordnung?«
»Hast du meine Nachricht bekommen?«
»Ich hatte noch keine Zeit, sie abzuhören.«
Er griff nach einem Umschlag, der auf der Bank lag. »Das musst du unbedingt lesen.«
»Kann das nicht warten?«, sagte sie. »Ich muss wirklich nach oben.«
Er hatte den Umschlag schon geöffnet und gab ihr ein Manuskript.
»Lies den ersten Satz«, sagte er.
»David – «, wandte sie protestierend ein, aber dann las sie den ersten Satz auf der Seite.
Ich habe Henry Kormoran in seiner Wohnung an der Linden Street getötet.
»David, woher hast du das?«
»Ich sag’s dir gleich«, antwortete er, »aber du musst auch noch den letzten Satz lesen.«
Sie blätterte bis zum Ende vor.
Sutton Bell ist der Nächste.
6
In den vergangenen zwei Jahrzehnten waren an den Stadträndern von Ann Arbor etliche neue Siedlungen entstanden, die die weißen Flecken auf der Landkarte allmählich füllten. Die Straßen verliefen streng geometrisch, und die Häuser entsprachen alle mehr oder weniger einem Standard, variierten meist nur in der Farbe oder architektonischen Details.
Die Bells wohnten in einem weiß verkleideten Haus und einem Zierelement über der Garage, das wie der Schlussstein eines Bogens aussah. Als Elizabeth eintraf, stand der Polizeiwagen, den sie angefordert hatte, bereits vor dem Haus. Einer der beiden uniformierten Beamten stieg aus, um sie in Empfang zu nehmen – ein muskulöser junger Mann namens Fielder.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie ihn.
»Ja«, sagte er. »Bell ist nicht da. Seine Frau auch nicht. Seine Tochter wird von einem Kindermädchen beaufsichtigt. Ziemlich abgefahren, dieses Kindermädchen. Wollte mir aus der Hand lesen.«
Das Kindermädchen entpuppte sich als eine reichlich mit Schmuck behängte junge Frau mit dünnem Haar. Sie öffnete Elizabeth die Tür und führte sie ins Wohnzimmer. Ein achtjähriges Mädchen saß auf dem Fußboden und malte auf einer Unterlage aus Zeitungspapier mit bunten Filzstiften.
Das Mädchen sah zu Elizabeth auf und lächelte schüchtern. Das perfekte Beispiel für ein glückliches Kind: flachsblond, blauäugig und engelhaft.
Elizabeth winkte ihr zu, und das Mädchen winkte
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