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Bell ist der Nächste

Bell ist der Nächste

Titel: Bell ist der Nächste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Dolan
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dachte, sie sei eingeschlafen, aber sie regte sich und griff nach dem Block, den sie immer auf dem Nachttisch liegen hat. Eine Angewohnheit, die sie von mir übernommen hat, die Angewohnheit eines Schriftstellers. Ideen muss man auf Papier festhalten.
    Ich hörte, wie ihr Kugelschreiber kritzelte, so leise wie Sand, der im Wind verweht.
    Als das Geräusch verstummte, fragte ich sie: »Was ist denn?«
    »Wahrscheinlich nichts«, sagte sie. »Aber wenn Kormoran geglaubt hat, dass er Callie Spencer mit Lambeau an der Great Lakes Bank gesehen hat, dann könnte das erklären, warum er ihr Porträt in seiner Wohnung hängen hatte. Er hat es vielleicht gebraucht, um sich daran erinnern zu können, wie sie damals ausgesehen hat.«

    Am nächsten Morgen holte ich Bagel und Orangensaft und fuhr zurück zur Bedford Road. Ich sah Lucy Navarros gelben Beetle an der gleichen Stelle stehen, an der sie und ich am vorigen Tag gestanden hatten. Lucy saß in der Nähe im Schatten auf einer niedrigen Steinmauer, die den Vorgarten eines anderen Grundstücks begrenzte.
    Sie winkte mir zu, und ich ging hinüber und setzte mich neben sie, reichte ihr den Orangensaft und stellte die Bageltüte zwischen uns. Sie hatte sich umgezogen, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte.
    »Ich habe mich gefragt, ob Sie wohl die ganze Nacht hierbleiben«, sagte ich.
    »Ich habe eine kleine Pause eingelegt«, sagte sie, »und ein paar Stunden im Hotel geschlafen. Aber seit halb acht bin ich wieder hier.«
    Es war jetzt fast zehn. Ich blickte zu dem Anwesen der Spencers hinüber. Callie Spencers Ford stand in der Auffahrt.
    »Irgendwas passiert?«, fragte ich.
    »Nichts«, sagte Lucy. »Callie ist gestern Abend zum Essen ins Haupthaus gegangen und dann um neun herum zurück in das Gartenhaus. Soweit ich weiß, ist sie seitdem nirgendwo gewesen. Ich bin allerdings auch froh, dass ich ihr nicht nachjagen musste. Ich hatte genug hier zu tun.«
    Ich wollte sie gerade fragen, was sie damit meinte, aber sie zeigte schon auf eine Stelle im Gras, nicht weit von unseren Füßen entfernt. Da befand sich etwas Ovales, das ich für einen Stein gehalten hatte. Es war der braune Panzer einer Schildkröte. Als ich noch genauer hinsah, konnte ich ihren Kopf erkennen, die dunklen Punkte ihrer Augen. Ich konnte sehen, wie sich ihr Mund bewegte, während sie an einem Kleeblatt herumkaute.
    »Sie ist schon den ganzen Morgen hier«, sagte Lucy. »Kriecht immer wieder auf die Straße. Ich habe Angst, dass sie überfahren wird.«
    Wie auf das Stichwort wagte die Schildkröte einen Ausfall Richtung Borsteinkante. Sie war nicht groß – vielleicht fünfzehn Zentimeter vom Kopf bis zum Schwanz –, aber sie bewegte sich ziemlich schnell. Sie überquerte den Gehsteig und verharrte dann.
    Angespannt sah Lucy zu, auf dem Sprung, ihr nachzusetzen.
    »Ich hab sie schon sieben- oder achtmal von der Straße geholt«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich wegmuss.«
    Dann kroch die Schildkröte weiter. Lucy sprang auf, um sie zu schnappen.
    »Vielleicht sollten Sie sie auf die andere Straßenseite tragen«, sagte ich, »wenn sie da unbedingt hinwill.«
    »Das habe ich schon versucht«, sagte sie und hielt die Schildkröte in beiden Händen. »Wenn man sie rüberträgt, dann will sie wieder hierher zurück. Was man auch macht, nichts ist ihr recht.«
    Ein Auto fuhr vorbei. Lucy setzte die Schildkröte im Gras in der Nähe der Steinmauer ab und setzte sich wieder.
    »Und bevor Sie das auch noch fragen, ich habe auch versucht, sie auf die andere Seite der Mauer zu setzen«, sagte sie. »Aber auch da bleibt sie nicht.« Sie zeigte an mir vorbei auf eine Lücke in der Mauer, wo eine Einfahrt zwischen zwei Steinsäulen hindurchführte. »Sie ist den ganzen Weg bis dahin gekrochen und wieder herausgekommen. Sie ist entschlossen. Ich mache mir Sorgen um sie.«
    Mir fiel nichts ein, was ich dazu hätte sagen können, also drehte ich den Verschluss meiner Orangensaftflasche ab und nahm einen Schluck. Es wurde allmählich warm, aber im Schatten fühlte es sich gut an. Die Schildkröte blieb im Gras, wo sie war. Sie hatte sich in ihren Panzer zurückgezogen.
    Auf der anderen Straßenseite fuhr ein Junge auf seinem Fahrrad vorbei. Lucy öffnete die Tüte, die zwischen uns stand, und nahm sich einen Bagel heraus. Nach einer Weile sagte sie: »Sie glauben, ich hab ’ne Meise.«
    »Nein«, sagte ich.
    »Doch. Wegen der Schildkröte. Ich hab keine Meise, Loogan. Ich gehöre nicht zu den

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