Belsazars Ende
beiden Lehrer von der Synagogenschule, ein paar Ärzte, zwei Juristen, aber die meisten von ihnen waren Kaufleute, Viehhändler, Metzger, Gastwirte. Von der Herzogstraße bis oben in der Hagschen Straße gab es allein zwölf jüdische Textilgeschäfte.«
»Integriert? Das ist gar nicht so leicht zu beantworten. Sie waren eigentlich alle miteinander verwandt oder verschwägert, und es gab nur ganz wenig Ehen mit nichtjüdischen Partnern.
Natürlich bestanden vereinzelt Freundschaften zwischen jüdischen und christlichen Familien, besonders unter den Geschäftsleuten. Heute würde ich die Situation wohl am ehesten als ein friedliches Nebeneinander beschreiben. Vielleicht kam von der anderen Seite die Distanz daher, daß Kleve immer eine stark von Glauben und Kirche geprägte Stadt war. Und in jener Zeit war es eben die katholische Kirche. Ich habe heute den Eindruck, daß diese Distanz gerade Ende der Zwanziger Jahre zu bröckeln begann.« Er unterbrach sich und lächelte: »Ich fange schon wieder an zu dozieren. Jedenfalls war es so, daß immer weniger Juden ihre Kinder zur Synagogenschule schickten. Von denen, die ich kannte, waren es eigentlich nur die Rosenbergs. Louis und Hannah Rosenberg waren nämlich strenggläubige Juden; für ihre Kinder wäre niemals eine andere Schule in Frage gekommen. Aber die evangelischen Schulen nahmen Juden auf, die Volksschule, das Gymnasium, das Lyceum und die Landwirtschaftsschule.«
»Nein, die katholischen Schulen nicht! Als ich 1932 eingeschult wurde, waren in meiner Klasse zwei jüdische Mitschüler. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie in irgendeiner Weise,anders’ gewesen waren. Man wußte eben, sie waren Juden, wir waren Christen; am Sabbat gingen die in ihre Synagoge und wir sonntags in die Kirche – mehr nicht.«
»Offene Ablehnung in der Zeit? Aus meiner eigenen Erinnerung hätte ich immer mit,nein’ darauf geantwortet, aber natürlich weiß ich es besser. Die NSDAP hat es schon Ende der Zwanziger Jahre immer mal wieder mit Hetzkampagnen versucht: Deutsche, kauft nicht bei Juden! Aber das blieben zunächst nur Einzelfälle hier, die die Bevölkerung kaum ernstgenommen hat. 1933 schlug das dann allerdings sehr schnell um.«
Er legte Toppe die Kopie eines Flugblattes vor. Die Große Straße sieht aus wie eine Straße in Jerusalem, soviel Libanonindianer haben sich dort eingerichtet, hieß es dort.
»Als es richtig losging, war ich ungefähr sieben, aber sogar ich habe mitgekriegt, wie in den folgenden zehn Jahren aus angesehenen, wohlhabenden Bürgern eine verarmte, rechtlose Minderheit wurde.
Schon im März 1933 ließ die NSDAP einige jüdische Geschäfte schließen. Damals stieß die Aktion aber noch auf Befremden und Ablehnung in der Klever Bevölkerung, so daß man das Ganze schleunigst rückgängig machte. Aber mit der Zeit wichen das Befremden und die Ablehnung einer dumpfen Hilflosigkeit und schließlich dem Wegschauen.
Man muß sagen, daß Gewalttaten gegen jüdische Bürger tatsächlich nur von der SA und SS ausgeübt wurden. Eine aktive Beteiligung der Bevölkerung hat es wohl nicht gegeben.
Die NSDAP kontrollierte schon bald äußerst scharf, wer bei Juden einkaufte, und nur wenige hatten den Mut, über längere Zeit als geächtete Verräter dazustehen. Dadurch wurde den jüdischen Geschäftsleuten natürlich die Existenz abgegraben. Das geht in einer kleinen Stadt wie Kleve wesentlich schneller als in Großstädten: Der Druck ist stärker, die Arbeitsmöglichkeiten sind eingeschränkt. Wenn das Geschäft einmal kaputt war, war man am Ende. Viele zogen schon damals nach Krefeld und Düsseldorf und gründeten eine neue Existenz. Und eine ganze Reihe erkannten die Zeichen der Zeit und wanderten aus.
Es ist tatsächlich so, daß es 1938 nur noch ein einziges jüdisches Geschäft in Kleve gab: Louis Rosenbergs Textilkaufhaus.«
»Wußten Sie das nicht? Die Rosenbergs gehörten zu den zehn reichsten Leuten der Stadt. Sie hatten zwei weitere Filialen in Goch und Kalkar.
Das Pogrom vom 10. November 1938 läutete die letzte Phase ein: den offenen Terror. Die Synagoge brannte völlig nieder. Die SA bildete eine dichte Kette rund um den Platz, damit niemand auf die Idee kam zu löschen.
Die Bevölkerung stand gelähmt dabei und guckte zu. Ich auch; ich hatte erbärmliche Angst.
Rosenbergs Geschäft wurde vollkommen verwüstet, Louis Rosenberg zusammengeschlagen. Am nächsten Tag deportierte man ihn nach Dachau, mit der Begründung, er habe einen
Weitere Kostenlose Bücher