Belsazars Ende
Polizisten angegriffen.«
»Und von dort ist er noch mal zurückgekommen?!«
»Ja, bald schon. Ich bin sicher, das hat die Familie Rosenberg eine ganz schöne Summe gekostet. Nein, das war in diesen Jahren nicht ungewöhnlich. Da gab es noch vereinzelt die Möglichkeit, Familienmitglieder freizukaufen, wenn man über genügend Kapital verfügte. Das war doch ein ziemlich einfaches Mittel, an das jüdische Vermögen heranzukommen, ganz dezent.
Nach dem Synagogenbrand kam es zur letzten großen Auswanderungswelle, und viele, die ihre Ausreisegenehmigung nicht schnell bekamen, gingen illegal über die grüne Grenze nach Holland; die letzten 1939. Rosenberg ist buchstäblich bis zur letzten Minute hiergeblieben.«
»Aber 1939«, versuchte Toppe sich richtig zu erinnern, »da waren Juden in Holland doch auch nicht mehr sicher.«
»Die Kapitulation der Niederlande war erst im Mai 1940.«
»Haben die anderen, die geblieben sind, denn wirklich nicht gewußt, was los war? Warum sind sie nicht alle gegangen?«
Schmitt zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Wenn ich bösartig wäre, würde ich sagen: nicht mehr genug Geld!«
Toppe zuckte zusammen. »Wollen Sie damit sagen, daß Leute wie van Velden sich haben bezahlen lassen?«
Schmitt lächelte dünn. »Das wird wohl immer Spekulation bleiben. Aber nein, die jüdischen Menschen, die in Kleve blieben, waren zumeist alt. Viele sagten: Ich bin in Kleve geboren, ich will auch in Kleve sterben. Aber selbst das ging nun nicht mehr. Ihre Lebensbedingungen wurden drastisch eingeschränkt: Sie durften keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen, keine Parks und Wälder, keine Gaststätten mehr betreten. Es war ihnen nicht gestattet, Haustiere zu halten. Und so weiter, Sie wissen das alles. Jeden Tag brachte neue Verordnungen, die es dem Staat erlaubten, sämtliche irdischen Güter nach und nach zu beschlagnahmen. Dann irgendwann gab es keine Lebensmittelmarken mehr für Fleisch, Milch, Weißbrot, keine Kleidung, und schließlich holte man sie im Oktober 1941 ab und pferchte sie im alten Finanzamt in der Klosterstraße zusammen.«
»Klosterstraße?«
» An der Münze heißt die Straße heute. Das Haus stand da, wo jetzt das Spoycenter ist. Ich war damals fünfzehn, und ich weiß noch gut, daß meine Tante oft bei Nacht und Nebel Lebensmittel in das Gebäude geschmuggelt hat.
Es waren knapp vierzig Menschen, und man deportierte sie, jede Woche sechs, acht von ihnen, nach Theresienstadt, Auschwitz und Riga. Hätte ich die Gnade der späten Geburt, würde ich sagen: und damit endete die Geschichte der Juden in Kleve.«
»Macht Sie das nicht immer noch..« Toppe hielt inne.
»Betroffen wollten Sie sagen, nicht wahr?«
»Ja, beinahe hätte ich es gesagt, aber ich kann das Wort nicht mehr ertragen.«
»Nein, keine Betroffenheit. Ich empfinde Empörung, Zorn, Wut. Jedesmal wieder und jedesmal genauso stark, wenn ich zum Beispiel Fotos wie dieses sehe.«
Er schob Toppe ein aufgeschlagenes Buch zu.
Eine Klever Karnevalsgruppe im Rosenmontagszug 1936 stand unter dem Foto.
Es zeigte Männer und Kinder mit grotesken Judenmasken: böse Augen, lange Nasen und hohe schwarze Hüte. Ein Plakat in ihrer Mitte: Auf und wohin? Palästina!
»Das braucht keine Kommentare«, sagte Schmitt. »Die Dinge selbst sind laut genug. Man muß sie sammeln und man muß sie zeigen. Betroffenheit demonstrieren? Wem soll das nützen, was soll das bringen? Nein, ich halt’s da mit Bert Brecht:,Laßt uns die Warnungen erneuern, auch wenn die Erinnerungen wie Asche in unserem Mund sind.’ Das sehe ich als meine Aufgabe – gerade jetzt.«
Er holte Luft und lachte. »Jetzt bin ich mir selbst ins Netz gegangen. Ich hasse Pathos!«
Aber Toppe schüttelte den Kopf. »Es gab aber doch auch in dieser Stadt einen Widerstand.«
»Widerstand? Es gab ein paar wenige. Die Namen sind hinlänglich bekannt. Fast alles Männer der Kirche. Die Seligsprechungen sind ja gerade in vollem Gange. Wenn’s das bringt! Widerstand ist ein sehr großes Wort. Im Kleinen, auf der Ebene von Freundschaften, da gab es schon eine Menge Leute, die etwas taten, die ihr Essen teilten, versuchten Not zu lindern. Auch mutigere, wie meine Tante, die Lebensmittel schmuggelten, Kranke pflegten oder auch schon mal eine ganze Partie Hetzflugblätter vernichteten. Auch das hat es gegeben. Aber von den meisten dieser Dinge habe ich erst vor ein paar Jahren erfahren, als ich mit meinen Schülern nach Zeitzeugen suchte. Für diese Leute war
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