Benedict-Clan "Der Mitternachtsmann"
Zeit weg war, fühlte sie sich außerhalb ihres Hauses wie auf dem Präsentierteller und verletzlich. Sie konnte sich gerade noch bezwingen, mit ihrem Kater gesetzten Schrittes auf dem Arm ins Haus zu gehen, statt zu rennen und die Tür hinter sich zu verrammeln.
Ihre Hand war nicht sehr ruhig, als sie Midnights seidiges Fell streichelte, während sie ihn den Flur hinuntertrug. Sie war überglücklich, dass er wieder da war. Sie hatte Angst gehabt, schreckliche Angst, dass er für immer fort, wenn nicht sogar tot war. Ihr war gar nicht klar gewesen, wie sehr sie an ihm hing, bis sie ihn fast verloren hätte. Sie hatte es gerade noch geschafft, vor Luke nicht loszuheulen.
Wie lange war es her, dass sie so kurz vorm Weinen war? In gewisser Hinsicht war sie erleichtert, dass sie es überhaupt noch konnte. Es war gut zu wissen, dass sie immer noch in der Lage war, etwas zu fühlen, dass sie immer noch etwas so sehr lieben konnte, dass es sie zum Weinen brachte, auch wenn es nur ein Tier war.
In der Küche strich ihr der Kater laut schnurrend um die Beine, als sie eine Dose Katzenfutter aufmachte und das Fressen in sein Schälchen tat. Während sie beobachtete, wie er heißhungrig fraß, als ob es seine erste Mahlzeit seit Tagen wäre, presste sie die Lippen zusammen. Luke hatte nicht zugeben wollen, dass ihn irgendwer mitgenommen haben könnte. Wusste er womöglich mehr, als er ihr erzählte?
Plötzlich fröstelte sie in der klimatisierten Küche und schlang die Arme um sich. Es war beunruhigend, ausgerechnet in einem Moment an ihn zu denken, in dem sie sich am meisten nach seinem Körper sehnte. Das war natürlich alles; sie würde das, was sie vorhin, als sie zu Luke aufs Dach hinaufgeschaut hatte, gefühlt hatte, nicht noch weiter ausschmücken. Was sie jetzt spürte, war vermutlich nur eine automatische Reaktion, eine ganz natürliche weibliche Reaktion auf mit Charme gepaarte männliche Kraft, so eindrücklich zur Schau gestellt vor einem strahlend blauen Sommerhimmel. Sie hatte die Vitalität, die von ihm ausgegangen war, gespürt und sich danach gesehnt, die Hände auszustrecken, um sich davon anstecken zu lassen. Es war eine spontane Reaktion gewesen, fast wie ein Tagtraum. Er würde sich schieflachen, wenn er es wüsste.
Und irgendwann heute im Lauf des Vormittags war ihr auch durch den Kopf geschossen, dass sie vielleicht wirklich auf einer rein körperlichen Ebene etwas mit ihm anfangen sollte, so wie Julianne es vorgeschlagen hatte. Bestimmt käme sie mit einer Affäre, die frei von Verpflichtungen war, zurecht, ohne an die Zukunft zu denken, was Komplikationen verursachen konnte. Und sie hätte alle Vorteile, von denen Julianne gesprochen hatte. Sie sollte, was Luke anbetraf, über ihre Empfindlichkeiten hinwegkommen.
Sie hatte fast einen Herzschlag bekommen, als sie gemerkt hatte, dass er die Fotos an der Wand entdeckt hatte. Selbst jetzt wurde ihr bei der Erinnerung daran noch ganz heiß. Zum Glück war es ihr gelungen, sich mit ein paar flotten Sprüchen aus der Affäre zu ziehen, obwohl ihr immer noch schleierhaft war, wie sie das geschafft hatte.
Luke schien das, was sie gesagt hatte, akzeptiert zu haben, aber sie machte nicht den Fehler zu glauben, dass die Angelegenheit damit für ihn erledigt wäre. Zweifellos würde er sie wieder aufs Tapet bringen. Überraschend war nur, dass er so ein verdammtes Beweisstück nicht zu seinem eigenen Vorteil ausgenutzt hatte.
Obwohl natürlich nichts von dem, was sie behauptet hatte, gelogen war.
Seltsamerweise war sie heute mit ihrem Buch gut vorangekommen, bevor Luke sie mit der Neuigkeit von Midnights Rückkehr unterbrochen hatte. Ihn genau zu beschreiben, wie er da oben auf dem Dach ausgesehen hatte und wie sich ihre Heldin bei dem Anblick eines solchen Mannes gefühlt hatte, war der Auslöser für einen ganzen Strom von Worten gewesen. Sie waren ihr so schnell in guten, soliden Sätzen in die Tasten geflossen, dass sie Mühe gehabt hatte, mit dem Schreiben nachzukommen. Selbst jetzt konnte sie es kaum erwarten, zu ihrer Geschichte zurückzukehren. Sobald Midnight aufgefressen hatte, würden sie beide sofort wieder in ihr Arbeitszimmer gehen.
Es war viel später, als April schließlich ihr Tagewerk auf eine Diskette speicherte und dann den Computer ausmachte. Sie verschränkte die Hände hinterm Kopf und reckte die müden Glieder, dann stand sie vom Schreibtisch auf. Der lange Sommerabend hatte ihr ein paar zusätzliche Stunden Arbeitszeit beschert.
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