Benkau Jennifer
Seitenfester.
Der Schuss peitschte über das Kreischen des Radios hinweg. In einer obskuren Zuckung wurde der Polizist von seiner Maschine geschleudert, rollte wie fortgeworfen in den Straßengraben und blieb ohne Regung liegen. Das Motorrad schlingerte für wenige Meter fahrerlos, dann brach das Vorderrad aus und die Maschine überschlug sich mehrere Male. Helena stieg in die Bremse. Das Blaulicht erstarb als Erstes, die Sirene heulte weiter, während das in einem Funkenregen über den Asphalt rutschende Motorrad den Porsche am Vorderrad streifte. Der Sportwagen drehte sich mehrmals mit blockierten Reifen. Schwarzer Qualm stieg auf und hüllte alles ein.
Helena nutzte ihre Chance. Sie wendete hastig, wobei sie mit dem Heck des Wagens einen Busch am Straßenrand niedermähte, und brauste in die entgegengesetzte Richtung davon. An der Stelle, an der der Körper des Polizisten lag, zwang sie sich zum Anhalten. Ein kurzer Blick zurück. Georg war offenbar von der Straße abgekommen und folgte ihr nicht. Noch nicht. Trotz der Gewissheit, dass er sich nicht lange würde aufhalten lassen, stieg sie aus, um nach dem Polizisten zu sehen, der mit verdrehten Gliedmaßen im brackigen, Öl schimmernden Wasser des flachen Straßengrabens lag. Für den Mann gab es kaum Hoffnung, doch irritierte es Helena, dass sie seinen Geist nicht den Körper verlassen sah. So riskierte sie einen Blick unter das Visier des Helmes und schrak jäh zurück. Dort, wo ehemals das Gesicht des Mannes gewesen war, befand sich nur noch eine undefinierbare Fleischmasse. Ein einzelnes Auge stierte ins Leere. Es drehte ihr fast den Magen um, als ihr klar wurde, dass Georg diesem Mann durch die Helmöffnung mitten ins Gesicht geschossen hatte.
So schnell ihre gallertartigen Beine sie trugen, hetzte sie zurück zum Auto und gab Vollgas, kaum dass sie die Tür hinter sich zugeschlagen hatte. Ohne einen Blick nach links oder rechts zu riskieren und ohne sich einmal umzuwenden, fuhr sie durch die Nacht. Vermutlich war es nur die Angst, er könne jederzeit an der nächsten Straßenecke stehen, die verhinderte, dass ihr Adrenalinpegel sank und sie in einem Loch aus Panik, Tränen und Entsetzen versank.
In diesem Loch fand sie sich erst am nächsten Morgen, als sie sich in der Sicherheit des Tages und in Evelyns Wohnung befand. Helena heulte eine kleine Ewigkeit in den Armen ihrer Cousine, lauschte fassungslos den Radioberichten, die von dem schrecklichen und unverständlichen Mord an dem Polizisten, einem Vater von drei kleinen Kindern, berichteten. Sie fühlte sich schuldig und unendlich müde. Gleichzeitig war sie so rastlos und in Eile, dass sie kaum vermochte, Evelyn zuzuhören, die ihr immer wieder die Anweisungen aus dem alten Dämonologie-Buch vorlas. Sie musste diesen Dämon aufhalten, nichts anderes hatte Platz in ihrem Kopf.
„Hast du ein geeignetes Messer, um die Signa in den Boden zu ziehen?“, fragte Evelyn. „Es muss eine scharfe Klinge sein, hier wird empfohlen, eine aus Silber zu wählen.“
Helena schnaubte. „Ich habe ein Küchenmesser.“
Evelyn stand auf und durchwühlte ihre Schreibtischschubladen. Schließlich zog sie einen Brieföffner hervor, der die Form eines Dolches besaß. In den Griff war zu jeder Seite eine Feder eingraviert.
„Scharf und zumindest versilbert. Außerdem heißt es doch so schön, dass die Feder mächtiger sei, als das Schwert.“ Sie wickelte den Brieföffner in ein Geschirrtuch und schob ihn in Helenas Koffer. Dann legte sie Helena beide Hände auf die Schultern. „Und du bist wirklich sicher, dass ich nicht mitkommen soll?“
„Ganz sicher. Ich will dich nicht noch weiter in die Sache hineinziehen. Außerdem“, sie stockte und spürte plötzlich einen dicken Kloß im Hals, „möchte ich, dass du auf Cat aufpasst. Ich will sie keinesfalls dabeihaben, wenn ich … du weißt schon was, tue. Noch weniger, als ich dich dabeihaben möchte. Und falls diese Sache schiefgeht …“
„Musst du mir dein Haus vererben“, unterbrach Evelyn und spielte ihre Unbekümmertheit beinahe glaubwürdig vor. „In dieser Wohnung sind Hunde nämlich eigentlich verboten, also hol sie bloß schnell wieder ab.“
„Ich hab dich lieb“, sagte Helena ernst. „Verzeih mir, dass ich so lange gebraucht habe, um das zu merken. Ich war eine Idiotin.“
„Du warst?“ Evelyn schüttelte den Kopf und blinzelte. „Nun lass das Zurückblicken sein, Cousinchen. Dazu besteht kein Grund.“
Helena hoffte, sie würde recht
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