Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
aber er wollte auf Drängen meiner Schwester grandmère seinen Respekt erweisen. Und ich hielt es nicht für passend, ihm davon abzuraten.«
»Willkommen, Neffe meines guten Freundes le Provoste! Ich bin entzückt, Eure Bekanntschaft zu machen, und geehrt, daß Ihr Euch von Eurer grandmère losgerissen habt, um an meinem Tisch zu sitzen. Doch mir scheint, Ihr kennt wohl schon einen meiner anderen Gäste.«
Karle schaute nervös in de Chauliacs Richtung und ließ dann den Blick über die Tafel schweifen. Er fühlte sich unwohl bei der neugierigen Taxierung der anderen Gäste, am meisten von Seiten des jungen Chaucer. Er rang um Fassung, während alle auf seine Antwort warteten. Schließlich stammelte er verneinend: »Nein … aber für einen Moment hat mich der Herr an jemanden erinnert.« Er wandte sich wieder an Alejandro und sagte: »Ich bitte um Verzeihung, Herr, wenn meine Aufmerksamkeit Euch aufdringlich erschien.«
Alejandro schüttelte rasch den Kopf. Er saß stumm und steif da, den Blick unverwandt auf den Rebellen mit den bernsteinfarbenen Haaren gerichtet, jenen Mann, der sich um seine geliebte Kate kümmern sollte. Was ist das für ein Wahnsinn? dachte er bei sich, als er Marcels falsche Vorstellung hörte. Er sah sich an der Tafel um und fragte sich, ob auch alle anderen so etwas wie Schwindler waren; rasch kam er zu dem Schluß, es sei durchaus möglich. Als er an der Reihe war, den Zuspätgekommenen seinen Namen zu nennen, erhob er sich ein wenig und schloß sich dem allgemeinen Täuschungsmanöver an. »Hernandez, zu Ihren Diensten, Messieurs. «
Umgehend erläuterte de Chauliac: »In diesem Raum herrscht zu große Bescheidenheit. Dies ist Doktor Hernandez, um genau zu sein. Mein früherer Schüler.«
Marcel zog interessiert die Augenbrauen hoch. »Dann müßt Ihr sehr gefragt sein, Herr; es gibt in Paris nur noch wenige Ärzte. So viele sind umgekommen. Ich habe viele Stunden mit der berechtigten Sorge zugebracht, wer sich um unsere Bürger kümmern soll.«
Dazu hatte auch der junge Chaucer etwas beizutragen; begeistert mischte er sich in das Gespräch ein. »Mein Herr Lionel erwähnt oft, wie sehr sein Vater den Mangel an Ärzten beklagt und gleichzeitig den Überfluß an Rechtsgelehrten kritisiert.«
Marcel lächelte. »Da ich selbst unter einem der zu vielen Rechtsgelehrten zu leiden hatte, kann ich verstehen, daß der König der Advokaten überdrüssig ist. Aber Ärzte sind ein wertvolles Gut.«
»Er ist nicht hergekommen, um Patienten zu behandeln, Etienne«, unterbrach ihn de Chauliac, »sondern um zu lernen. Und zwar aus einem schönen medizinischen Lehrbuch, das auch ich mir ansehen durfte.« Liebenswürdig lächelte er in Alejandros Richtung. »Ich bin sehr dankbar für die Ehre, die Doktor Hernandez mir erweist, indem er meine Meinung einholt.«
»Dann bin ich noch mehr beeindruckt!« Marcel wandte sich wieder an Alejandro. »Ist Euch klar, Herr, daß die französische Königsfamilie häufig seinen Rat sucht? Und auch die Heiligen Väter, mögen die Dahingeschiedenen in Frieden ruhen!«
Diese gutgemeinte Erinnerung an die Ironie des Schicksals rief bei de Chauliac einen etwas verbitterten Gesichtsausdruck hervor, den Marcel nicht übersehen konnte. Sofort änderte sich der Tenor seiner Rede. »Nun, laßt mich Euch nur sagen, daß Ihr Euch in guter und edler Gesellschaft befindet.«
Durch reine Willenskraft zwang Alejandro sein pochendes Herz, langsamer zu schlagen, damit er seine eigene Erwiderung hören konnte. »In weit edlerer, als meiner Herkunft zukommt, denke ich.«
Bei dieser Feststellung gewann de Chauliac seine Fassung wieder. »Ich erkläre noch einmal, Ihr leidet unter einem Übermaß an Bescheidenheit, Kollege. Meiner Meinung nach seid Ihr durchaus geeignet, einem König zu dienen.«
»Und welcher Herkunft seid Ihr, wenn ich so kühn sein darf, Euch diese Frage zu stellen?«
Nach einem kurzen Augenblick antwortete Alejandro Marcel so wahrheitsgemäß, wie es ihm möglich war. »Ich bin Spanier.«
»Das schloß ich schon aus Eurem Namen, Herr. Und welcher Familie entstammt Ihr?«
Jetzt log Alejandro. »Sie sind einfache Leute aus Aragon.«
»Doch Ihr seid ein gelehrter Mann.«
Der Moment, den er brauchte, um eine plausible Antwort zu formulieren, kam Alejandro zu lang vor. »Die Stadt benötigte einen Arzt, und ich galt als ein Knabe, der fähig war zu lernen. Als meine Ausbildung beendet war, habe ich Aragon eine Zeitlang gute Dienste geleistet.«
»Und jetzt
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