Benson, Ann - Alejandro Canches 02 - Die brennende Gasse
stehen; sie war beladen und sollte in zwei Stunden starten. Das sei der letzte Flug aus Westmassachusetts zum Verteilungszentrum, weil die Piloten nicht mehr vollzählig zu ihren Schichten erschienen, und andere Gebiete hätten Priorität. Die Pilotin dieses letzten Fluges werde im Mittelwesten bleiben und dort auf neue Aufträge warten, informierte man Janie; sie würde nicht zu ihrem Heimatflughafen zurückkehren, weil der Betrieb dort eingestellt werde.
Kristina raste also zum Flughafen, und Janie sandte E-mails an alle Außenmitarbeiter:
Erwartet Päckchen, Anweisungen folgen.
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Zähne.
Könnte es sein, daß ich heute morgen vergessen habe, sie zu putzen? fragte Janie sich. Sie ging nach oben ins Badezimmer und nahm die Tube mit Zahnpasta, die halb aufgerollt war. Bevor sie die Paste auf die Bürste drückte, hielt sie die Tube einen Moment in der Hand, und dabei fielen ihr zwei Dinge auf: erstens, daß Tom und sie beide zu den Leuten gehörten, die die Tuben aufrollen und nicht von der Mitte her ausdrücken. Das konnte nur ein Omen sein. Und zweitens, wie sehr sie es haßte, ohne Zahnpasta zu sein.
Zahnpasta gehörte zu den banalen Artikeln des täglichen Bedarfs, die bald nur noch schwer oder gar nicht mehr zu bekommen sein würden. Es gab jedoch noch andere. Also fuhr Janie ihren quietschenden Volvo aus Toms Garage und machte sich auf den Weg, um möglichst viele von diesen Dingen zu erwerben, solange noch Ordnung herrschte.
Der Heilige Gral würde stets das Benzin sein; an ihrer gewohnten Tankstelle stand bereits eine lange Schlange von Leuten, die sich ängstlich danach drängten, ihre Tanks, Kanister und Mayonnaisengläser zu füllen. Janie dachte einen Moment daran, weiterzufahren, aber sie wußte, an der nächsten Tankstelle würde es genauso sein – überall herrschte jetzt dieselbe Situation.
Sie verbrachte eine ganze kostbare Stunde mit Warten und ärgerte sich über jede einzelne Minute; aber die Zeit mußte einfach aufgebracht werden, und als sie endlich an der Reihe war und mit der Hand über den Sensor fuhr, hörte sie erleichtert, wie die Pumpe das flüssige Gold in ihren Tank gurgeln ließ. Während die Zahlen auf der Benzinuhr stetig aufwärts klickten und die Macht, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen, in ihren Wagen strömte, erinnerte sie sich sehr deutlich daran, wie schnell es letztes Mal schwer geworden war, über die Runden zu kommen. Monatelang gingen die Leute zu Fuß und trugen Dinge oder schleppten sie hinter sich her, bis Arbeiter, die wußten, wie man Öl aus der Erde gewinnt und zu Benzin raffiniert, aus ihren Höhlen auftauchten und wieder ihrem Job nachgingen. Damals bekam man Benzin, wenn man es bezahlen konnte; sie hatte von Tauschgeschäften mit seltenen Ersatzteilen und Werkzeugen gehört, gelegentlich sogar mit Kaffee. Aber man mußte Beziehungen haben, sonst ging man eben zu Fuß.
Sie hamsterte Batterien, Kerzen, Milchpulver, Büchsennahrung, Mineralwasser, Tampons und – ultimative Notwendigkeit – Toilettenpapier. Glücklicherweise fand sie in einem Eisenwarenladen hinter einem verstaubten Ständer ein Schweizer Armeemesser. Jemand hatte es vor langer Zeit dorthin fallen lassen, und Janie war sicher, es hatte nur auf sie gewartet. Alle anderen Messer waren längst ausverkauft. Wie lange würde es dauern, bis die Regale wieder einmal vor Leere gähnten – wann würden die Verkäufer verschwinden und die Supermärkte allein ihrer Elektronik überlassen wie gespenstische Selbstbedienungsläden?
Wann würde zuletzt auch die Elektronik zusammenbrechen und das Plündern beginnen?
Automaten mit Schutzmasken und Schutzhandschuhen waren aus dem Boden geschossen wie Pilze nach dem Regen. Man sah sie an Straßenecken wie Propheten des Untergangs und der Zerstörung, große grüne Mahnmale für das bevorstehende Chaos. Die Leute eilten daran vorbei, um sie nicht mehr sehen zu müssen; denn wenn man stehenblieb und diese Dinge erwarb, akzeptierte man das Undenkbare und schickte sich in das Unvermeidliche. Janie hielt an und betrachtete sie voller Trauer, aber sie kaufte nichts.
Ihre letzte Station war ein kleiner Lebensmittelmarkt, der für die gute Qualität seiner Waren bekannt war, um ihre Credits gegen die duftenden, gerösteten Früchte des Kaffeebaums einzutauschen. Ein Jutesack mit getrockneten Bohnen stand offen auf der Theke, noch halb voll und unglaublich einladend. Janie wußte mit absoluter Sicherheit, daß er
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